Haiti: Erdbeben trifft auf politische Krise
Vor elf Jahren legte ein Erdbeben Teile Haitis in Trümmer, vor fünf Jahren dann ein Wirbelsturm. Hinzu kommt die politische Dauerkrise. Seit Samstag kämpft der Karibikstaat mit den Folgen der nächsten Naturkatastrophe.
"Ich bin tief erschüttert. Ich kann nicht fassen, was die Menschen in Haiti noch alles ertragen müssen." Mit diesem Aufschrei spricht Yolette Etienne, Projektkoordinatorin von Malteser International in Haiti, sicher Vielen aus der Seele. „Das Erdbeben hat das ärmste Land der westlichen Hemisphäre mit verheerender Wucht getroffen“, beklagt Adveniat-Hauptgeschäftsführer Pater Michael Heinz.
Seit Samstag hat der Karibikstaat, der ohnehin zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, mit einem neuen Desaster zu kämpfen: Ein Erdbeben der Stärke 7,2 brachte Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser und Kirchen zum Einsturz, Teile der Infrastruktur sind dahin. Mindestens 1.300 Menschen starben, mehr als 5.700 wurden verletzt. Übergangs-Präsident Ariel Henry rief den Notstand aus.
Politische und humanitäre Dauerkrise
Dabei befindet sich Haiti seit Jahrzehnten in einer "multiplen Dauerkrise". Nicht nur wegen häufiger Naturkatastrophen: Bei einem Erdbeben der Stärke 7,0 starben im Januar 2010 rund 300.000 Menschen, es gab zahllose Verletzte, rund 1,5 Million Menschen wurden obdachlos; 2016 folgte ein schwerer Wirbelsturm.
Darüber hinaus ist die innenpolitische Lage in der früheren französischen Kolonie seit langem prekär. Noch im Juni forderte Staatspräsident Jovenel Moise die internationale Gemeinschaft auf, Haiti im Kampf gegen bewaffnete Banden zu unterstützen. Dabei war der umstrittene Präsident, der seit 18 Monaten ohne funktionierendes Parlament regierte, selbst Teil des Problems; zwei Wochen später, am 7. Juli, wurde er ermordet.
20 Regierungen in 35 Jahren
Das Klima der Unsicherheit, die ständigen Bemühungen um Wiederaufbau nach Katastrophen, die durch neue zunichte gemacht wurden, Korruption, Bandengewalt und die Covid-Pandemie verschärften die Lage des einst wohlhabenden Inselstaats. Zuletzt sorgten die Entführung von katholischen Geistlichen, die Ermordung eines Professors sowie eine brutale Vergewaltigung für Entsetzen. In den vergangenen 35 Jahren hatte Haiti 20 Regierungen. Besonders brutal war die fast 30 Jahre währende Diktatur der Duvaliers bis 1986.
Bereits kurz nach der Unabhängigkeit führten politische Instabilität, Umweltzerstörung und Überbevölkerung ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu Verelendung. Bittere Armut und eskalierende Kriminalität sind die Schlagwörter für Haiti 2021. Auch die Kirche hatte zuletzt vor einer "sozialen Explosion" gewarnt. Laut Unicef sind 4,4 Millionen der 11 Millionen Haitianer so arm, dass nicht mal die tägliche Ernährung sichergestellt ist. Und nun ein erneutes schweres Beben. Noch ist nicht absehbar, wie massiv die Schäden sind und wieviele Tote, Verletzte, Vermisste und Obdachlose zu beklagen sind.
Papst Franziskus äußerte am Sonntag beim Angelus-Gebet sein Mitgefühl für die Menschen; er hoffe auf große Solidarität der internationalen Gemeinschaft. Ähnlich äußerte sich der Lateinamerikanische Bischofsrat CELAM.
Sorge vor dem Hurrikan
Hilfsorganisationen wie Unicef, Welthungerhilfe, Malteser und Save the Children sprechen von "überwältigenden" Not, einer "verzweifelten" Lage und tiefer Erschütterung. Das Erdbeben habe eine Region getroffen, die sich noch nicht von den Auswirkungen des Hurrikans Matthew im Jahr 2016 erholt habe, beklagt Pater Michael Heinz, Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. Haiti sei jetzt mehr denn je auf schnelle, gut koordinierte Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Mit großer Sorge blickt der Adveniat-Chef auf den für die nächsten 24 Stunden angekündigten Tropensturm „Grace“: „Wird die betroffene Region jetzt noch von dem Sturm heimgesucht und in dessen Folge überschwemmt, droht eine Katastrophe.“ Adveniat hat angekündigt, eine Soforthilfe in Höhe von 100.000 Euro bereitzustellen.
Hilfsorganisationen berichten, die nicht sehr stabilen Steinhäuser der betroffenen Region Nippes im Südwesten des Inselstaats seien zusammengefallen "wie Kartenhäuser". Krankenhäuser seien überfüllt, hätten kein ausreichendes Material oder seien gar nicht mehr intakt. Menschen suchten verzweifelt nach ihren Angehörigen. Handicap International verweist darauf, dass vor allem behinderte und alte Menschen, sowie Frauen und Kinder unter solchen Katastrophen litten. Neben der akuten Nothilfe werde es auf Dauer psychologische Unterstützung brauchen, denn die Menschen seien traumatisiert.
Das Räderwerk der internationalen Hilfe ist in Gang gesetzt. Auch "Aktion Deutschland Hilft" teilte mit, Mitgliedsorganisationen des Bündnisses seien in Haiti im Einsatz, um Schäden zu bewerten und erste Hilfsmaßnahmen zu ergreifen. Auch stehe zu befürchten, dass Hilfsmaßnahmen durch den Hurrikan Grace beeinträchtigt werden, der Anfang der Woche auf Haiti treffen soll.
Unter den vielen Posts auf Twitter sind auch zwei Fotos einer Kirche: Links ein stolzes weißes Gebäude mit schönem Glockenturm, rechts nur noch Trümmer. Darunter der Kommentar: "Die Kirche von Cavaillon im Süden ist eingestürzt" - versehen mit einem gebrochenen Herzen.
Adveniat-Pressemitteilung, 16. August 2021: Adveniat stellt 100.000 Euro Soforthilfe für Erdbebenopfer in Haiti bereit