El Salvador: Ausnahmezustand und überfüllte Gefängnisse
Regierung und Polizei in El Salvador feiern sich für ihren kompromisslosen Kampf gegen Bandenkriminalität. Kritiker dagegen warnen seit längerem vor autoritären Tendenzen im kleinsten Land Mittelamerikas.
Am Mittwoch, 13. April 2022 setzte El Salvadors Präsident Nayib Bukele einen Tweet ab: "10.527 inhaftierte Terroristen in nur 18 Tagen. Wir bleiben dran..." Damit hat eine beispiellose Verhaftungswelle in der Geschichte des von Konflikten gebeutelten mittelamerikanischen Landes einen neuen Höhepunkt erreicht. Die "Terroristen", von denen Bukele spricht, sollen den Mara-Banden angehören, die seit Jahren Gewalt und Schrecken im Land verbreiten.
Heimliche Absprachen mit Bandenanführern
Bis vor kurzem schien es, also ob Bukele die Bandenkriminalität in Griff hätte. Doch dann kam es am letzten März-Wochenende zu einer Explosion der Gewalt mit 60 Morden an einem Tag. Recherchen der Internetzeitung "El Faro" legen nahe, dass Bukele wie Vorgängerregierungen auch mit den Banden ein Art Stillhalteabkommen ausgehandelt hatte - gegen Hafterleichterungen für prominente Anführer. Offenbar fühlten sich die Maras nicht angemessen behandelt und wollten nun ein Zeichen setzen.
Der Präsident reagierte umgehend. Er rief einen vierwöchigen Ausnahmezustand aus und ließ landesweit Razzien durchführen. Seither verbreitet die Polizei mitunter im Minutentakt Bilder von schwer tätowierten "Pandilleros", vermeintlichen oder tatsächlichen Bandenmitgliedern, die mit entblößtem Oberkörper und knieend den Kameras präsentiert werden.
Gefängnisstrafen für Kinder
Inzwischen sollen sich rund 25.000 Bandenmitglieder im Gewahrsam der Sicherheitskräfte befinden. Nach einer eilig verabschiedeten Strafrechtsreform können bereits Kinder ab zwölf Jahren zu Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt werden; Jugendlichen ab 16 drohen bis zu 20 Jahre Haft, wenn sie der Mitgliedschaft in einer Mara-Bande für schuldig befunden werden.
Man muss diese Zahlen und Entscheidungen in Bezug setzen zur Einwohnerzahl von El Salvador - 6,5 Millionen Menschen auf der Größe Hessens - um eine Ahnung davon zu erhalten, dass in dem kleinsten Staat Mittelamerikas die Dinge gerade aus dem Ruder laufen. "Das Gefängnissystem war vorher schon komplett überlastet und dem Kollaps nahe", sagt der Misereor-Regionalreferent für Zentralamerika und Mexiko, Benjamin Schwab. Oft sei unklar, wohin die Verhafteten gebracht würden. "Das Phänomen des Verschwindenlassens von Menschen, die sich in staatlichem Gewahrsam befinden, ist plötzlich wieder sehr aktuell." Zudem würden massenweise Jugendliche aus Brennpunktvierteln willkürlich verhaftet und verschleppt. "Es wird gezielt Jagd auf die arme und marginalisierte Bevölkerung El Salvadors gemacht."
Autoritäre Tendenzen
Nach seiner Wahl 2019 habe der einstige Hoffnungsträger Bukele demokratische Grundrechte immer weiter eingeschränkt, beklagt Schwab. Nichtregierungsorganisationen und Medien würden massiv unter Druck gesetzt, kritische Journalisten und Menschenrechtsverteidiger vom Staat ausspioniert und bedroht.
Inzwischen hält Bukele mit seiner Partei Nuevas Ideas (Neue Ideen) die Mehrheit im Parlament, hat das Oberste Gericht des Landes mit seinen Gefolgsleuten besetzt. "Selbst der Ombudsmann für Menschenrechte gehört dem Lager des Präsidenten an", sagt Schwab. Die Bürger hätten praktisch keine politisch unabhängige Instanz mehr, an die sie sich bei Menschenrechtsverletzungen wenden könnten.
Unterdessen zündet der gelernte PR-Fachmann eine Nebelkerzen nach der anderen, um sich selbst als Landesvater mit Visionen zu inszenieren. Ein Husarenstück gelang ihm im vergangenen Jahr mit der Einführung der Kryptowährung Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel. In der "Süddeutschen Zeitung" sprach die Soziologin Jeannette Aguilar von einem "Marketinginstrument". Die Regierung wolle mit dem Bitcoin das Bild von einem freien und fortschrittlichen Land vermitteln. "Aber das entspricht nicht der Realität in El Salvador."
Bitcoin als Marketing-Coup
Stattdessen geht die Angst um unter Journalisten, Menschenrechtlern und Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen, wie Schwab schildert. Auch Kirchenvertreter halten sich mit öffentlichen Äußerungen zurück, "weil sie wissen, dass es auch ihnen an den Kragen gehen kann".
Das "Abkommen" zwischen Regierung und Maras scheint unterdessen nach dem blutigen Wochenende wieder hergestellt worden zu sein. Das würde auch den Rückgang der Morde erklären. "Es besteht allerdings die Gefahr, dass es mittelfristig zum Bruch zwischen den Mareros auf der Straße und den Anführern in den Gefängnissen kommt", sagt Schwab. Das könnte zu einer neuen Welle der Gewalt führen.