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Eine kolumbianische (Familien-)Geschichte - "La Oculta"

Finca mit ökologischem Landbau in Capuli Grande, El Tambo, Kolumbien. Foto (Symbolbild): Adveniat/Steffen
Finca mit ökologischem Landbau in Capuli Grande, El Tambo, Kolumbien. Foto (Symbolbild): Adveniat/Steffen

Antonio Ángel reist an den Ort seiner Jugend: "La Oculta" - "Die Verborgene" - eine Finca unweit von Medellín, die durch Kaffeeanbau, Holz- und Viehwirtschaft reich geworden war. Seit Jahren ist sie allerdings nur noch ein Schatten einstiger Größe, und selbst damit dürfte es bald vorbei sein.

Doña Ana, die Mutter von Antonio und seinen Schwestern Pilar und Eva, ist gestorben, und so begeben sich die drei längst erwachsenen Kinder, jedes auf eigene Art, auf eine doppelt traurige Reise: Zur Totenwache und zu unzähligen kaum aufgearbeiteten Erlebnissen aus der Vergangenheit.

Der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt in Kolumbien war schon häufig Gegenstand der erzählenden Literatur. Der Bürgerkrieg mit seinen Phasen immenser Gewalt, die Schicksale von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften, der Kampf der linksgerichteten Rebellen, die Auswirkungen von Drogenhandel und Ausbeutung, die Internationalisierung des Konflikts, Entführungen, Schießereien, Morde - all das liefert Stoff für lesenswerte Texte, die im besten Fall sogar erhellend und aufklärerisch wirken können.

Ein Panorama des Bürgerkriegs

Abads Romanzentrum mag auf dem landwirtschaftlichen Anwesen liegen, führt dann aber mit den drei Hauptfiguren hinaus in die Großstädte und ins Ausland, in alternative Gesellschaftsverhältnisse und moderne Lebensstile, und kehrt doch immer wieder zurück zu den politischen und sozialen Verwerfungen in Kolumbien. Dabei lässt der Autor die drei Protagonisten abwechselnd sprechen und verdeutlicht so, wie unterschiedlich die Menschen auf ein und dieselben Ereignisse reagieren.

Routine bei der Leichenwaschung

Da ist zum Beispiel die seit langem verheiratete Pilar, pflichtbewusst und mit einem Sinn für Ausgleich und Gerechtigkeit. Ihr fällt die Aufgabe zu, den Leichnam der Mutter zu waschen und für die Beisetzung vorzubereiten. Pilar könne das gut, heißt es, immerhin habe sie schon die Kinder ihrer engsten Freundinnen hergerichtet. Tote Kinder und eine Routine bei der Leichenwaschung?

Solche beiläufig eingeflochtenen Informationen verweisen auf Ereignisse vor, neben und unterhalb der Haupthandlung, die erst nach und nach zum Vorschein kommen. Man ahnt, dass die Figuren in "La Oculta" auf ihrem Lebensweg von einer gefährlichen Unterströmung mitgerissen wurden und dass der Bürgerkrieg auch auf der abgelegenen Finca Spuren hinterlassen hat.

"Man wusste nie, auf wessen Seite sie eigentlich standen"

Eva, die mittlere der Geschwister, hat "La Oculta" immer wieder verlassen und in Medellín an der Seite mehrerer einflussreicher, mächtiger Männer gelebt. Ihre Geschichte beleuchtet Aspekte der Geschlechterverhältnisse in weiten Teilen Lateinamerikas: So sehr sie sich als emanzipierte Frau inszeniert, zeigt ihre mehrfache Flucht in die Anonymität der Großstadt und unter den Schutz vermeintlich starker Männer, wie schwer es ist, aus etablierten Rollen auszubrechen. Und natürlich, wie unmöglich es ist, den Bürgerkrieg dauerhaft zu bannen.

"Ich konnte vielleicht wagen, den Bürgermeister oder die Polizei um Schutz zu bitten", erzählt Eva, "andererseits war es damals ziemlich riskant, sich auf egal welche Behördenvertreter zu verlassen. Man wusste nie, auf wessen Seite sie tatsächlich standen." Aus Evas Worten sprechen mal Wut und Widerstand, dann wieder nichts als Resignation. Ihr Kolumbien-Bild ist ein wahrhaft endzeitliches. Auf ihm erhalten die toten Kinder Kontur, es erscheinen Ganoven, die Terror verbreiten, um in den Besitz eines Bauernhofs zu gelangen, sowie mehrere Personen, die im Laufe der Jahre auf dem Gelände von "La Oculta" ihr Leben gelassen haben.

Vom Anhäufen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht

Antonio, der jüngste der Geschwister, der in den USA in einer schwulen Partnerschaft lebt, entdeckt sein Faible für die Lokalhistorie und sorgt damit für die zeitliche Tiefe der Romanhandlung. Er, der am weitesten entfernt von "La Oculta" lebt, gräbt in der Heimat am tiefsten und unerschrockensten. Die Familiengeschichte, die er zutage fördert, dreht sich um Migration und einen Identitätswechsel: Wahrscheinlich waren die Vorfahren der Ángels als jüdische Siedler im späten 18. Jahrhundert eingewandert und rasch zum Katholizismus konvertiert. Große unerschlossene Gebiete wurden damals gerodet und urbar gemacht.

Antonios Geschichte ist archetypisch für den Aufstieg einer Klasse von Großgrundbesitzern, die neben Reichtum auch gesellschaftliche Macht anhäuften. Pilar, Eva und Antonio mögen in der erzählten Gegenwart vielleicht keine großen Ländereien mehr besitzen und die Finca bald verkaufen - ihr Status in dem von starken sozialen Unterschieden geprägten Kolumbien bleibt trotz aller Veränderungen jedoch gefestigt wie eh und je.

Wie sieht das Bild aus, das die Zukunft zeigt?

Pilar hingegen findet ihren Bruder Antonio leichtgläubig. Er käue die Familiengeschichte wieder, statt sie zu hinterfragen. Außerdem fülle er die Lücken mit phantasievollen Erfindungen, an die er im nächsten Moment selbst glaube. Vor sich selbst behauptet Pilar, sie interessiere sich ausschließlich für jene Verwandten, denen sie persönlich begegnet ist. Alles andere sei zu viel, zu unübersichtlich, zu belastend.

So setzt sich das Bild der Ángels und ihres Familiensitzes aus Versatzstücken von Erinnerungen, Erfahrungen und Erforschungen der einzelnen Figuren zusammen, die alle ihre je eigene Betrachtungsweise pflegen. Man ist versucht, dieses Erzählmuster auf die kolumbianische Gesellschaft zu übertragen: Vielleicht weiß das ganze Land nicht - noch nicht -, wie der Frieden erreicht werden kann, welche Lehren aus Gewalt, Hass, Ungleichheit und individuell erlittenen Traumata gezogen werden müssen.

Autor: Thomas Völkner

Héctor Abad: La Oculta
Übersetzung: Peter Kultzen
Berlin: Berenberg Verlag 2016
ISBN 978-3-946334-00-2
352 Seiten, 25 Euro

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