Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.
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„Diktatur und Widerstand in Chile“

An den 40. Jahrestag des Staatsstreichs in Chile, als rechte Militärs unter Augusto Pinochet gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und sein Parteienbündnis Unidad Popular putschten, wurde in zahlreichen deutschsprachigen Medien erinnert. Was dabei auffiel, lässt sich als Binsenweisheit formulieren: Je weiter historische Ereignisse zurückliegen, umso größer ist der Erklärungsbedarf. Deshalb gerieten viele Beiträge zu „Kalenderblättern“, die das Geschehen vor, am und nach dem 11. September 1973 wiedergaben, und zwar mit einer aus der Rückschau angenommenen größtmöglichen Objektivität.

Dabei ist der Putsch bis heute ein umstrittenes und emotional aufgeladenes Thema – nicht nur in Chile, wo sich nächstes Jahr bei den Präsidentschaftswahlen die Töchter zweier politisch-weltanschaulicher Kontrahenten der 1970er Jahre gegenüberstehen. Auch bei uns gehen die Meinungen auseinander: Sie reichen von Trauer über die gewaltsame Beendigung eines einzigartigen Projekts bis zur Genugtuung über eine (vielleicht ähnlich einzigartige) wirtschaftliche Erfolgsstory.

Zeugnisse eines linksgerichteten Widerstands

Um ein genaueres Bild von den historischen Ereignissen zu erhalten, sollte man den Putsch und die 17-jährige Militärdiktatur unter dem Aspekt der Repression betrachten und hierfür Dokumente heranziehen, die weltanschaulich auf der Linken verortet werden können. Eine lohnenswerte Chance hierfür bietet eine neue Chile-Publikation aus der Reihe „Bibliothek des Widerstands“, die in Kooperation mit der Zeitung „Junge Welt“ vom Laika-Verlag herausgegeben wird. Die Bände dieser Reihe enthalten schriftliche und filmische Zeugnisse von Widerstandsbewegungen der letzten Jahrzehnte, aus denen, so die programmatische Aussage, Rückschlüsse für die Auseinandersetzungen zur Überwindung heutiger Verhältnisse gezogen werden können. Jeder Band besteht aus einer Sammlung neuer und wiederveröffentlichter Aufsätze sowie zwei bis drei DVDs mit seltenen Dokumentarfilmen und TV-Features.

„Diktatur und Widerstand in Chile“ ist einer von zwei Bänden (neben „Salvador Allende und die Unidad Popular“), die pünktlich zum Jahrestag des Putsches erschienen sind. Der zentrale Text des Aufsatzbandes beschäftigt sich mit den Vorgängen im Armenviertel La Legua in der Hauptstadt Santiago de Chile am 11. September 1973. Mario Garcés und Sebastián Leiva begeben sich auf eine minutiöse Spurensuche nach den Zeugnissen einer zumeist ausgeblendeten Episode. Im bewaffneten Widerstand von La Legua spiegelt sich das Zusammenwirken von linken Aktivisten, Gewerkschaftern und Bewohnern des Viertels. Die Autoren beleuchten die Schicksale der wichtigsten Protagonisten bis hin zu deren Inhaftierung, Folterung und Ermordung sowie zu den Bemühungen von Kirchenvertretern wie Kardinal Silva Henríquez zur Aufklärung der Todesfälle. Ein daran anschließender Artikel berichtet von einem Oral-History-Projekt, an dem Dutzende Bewohner von La Legua im Jahr 2000 teilnahmen und durch das rund 50 Opfer ermittelt werden konnten.

Zivilcourage, bewaffneter Kampf und Reaktionen in Deutschland

Dass Widerstand nicht nur kollektiv, sondern auch Grundlage individueller Zivilcourage geleistet wurde, zeigt der Text über den schwedischen Botschafter Harald Edelstam, der bis zu seiner Abberufung im Dezember 1973 insgesamt 1.300 Oppositionellen zur Flucht aus Chile verhalf. Angesichts der geschilderten Episode, wie er die von chilenischen Militärs unter Beschuss genommene kubanische Botschaft unter den Schutz des Königreichs Schweden stellte, muss man seinen Einsatz als an Kühnheit grenzende Courage beschreiben.

Zwei weitere Artikel beleuchten die Aktionen sowie die innere Struktur der Frente Patriótico Manuel Rodríguez (FPMR). Dieser bewaffnete Arm der verbotenen Kommunistischen Partei war in den 80er Jahren mit rund 1.500 Kämpfern aktiv und versuchte unter anderem im September 1986 einen Anschlag auf General Pinochet. Zeitzeugenberichte wie der des Leiters der FPMR wechseln sich ab mit historischen Analysen, etwa zu den Reaktionen in den beiden deutschen Staaten. Die DDR nahm in kurzer Zeit 2.000 Exilanten auf und siedelte die Exilführung der Sozialistischen Partei Chiles in Ostberlin an. In der sozialliberal regierten Bundesrepublik kam es durch die Neubelebung wirtschaftlicher Beziehungen hingegen zu einer „schleichenden Stützung der Junta“. Der Lateinamerikanist Urs Müller-Plantenberg sieht die Gründe in der Unterstützung des neoliberalen Wirtschaftsprojekts, das während der Diktaturjahre durchgeführt wurde. Chile sei noch vor Margaret Thatchers Großbritannien und Ronald Reagans USA zum Musterland einer deregulierten Wirtschaft geworden. Ebenfalls abgedruckt ist die Mitschrift eines Round-Table-Gesprächs dreier deutscher Wissenschaftler zur Bedeutung Chiles für die linksalternativen Bewegungen in Westdeutschland.

Bewegende Filmdokumente

Besonders wertvoll wird die Veröffentlichung durch die beigefügten Dokumentarfilme. In „Chile, la memoria obstinada“ („Hartnäckige Erinnerung“) begleitet der Filmemacher Patricio Guzmán Ende der 1990er Jahre sowohl frühere Unidad-Popular-Aktivisten als auch junge Chilenen, die während der Diktatur aufwuchsen, bei der mühsamen Aufarbeitung der Vergangenheit. Die eingeschlagenen Wege sind vielfältig: Da betrachtet eine Gruppe älterer Menschen einen Stapel Fotografien, die am 11. September 1973 aufgenommen wurden. Ein bildender Künstler zeigt großformatige Gemälde, die auf der Grundlage solcher Fotos entstanden sind. Ein Mitglied von Salvador Allendes Leibwache betritt nach 25 Jahren wieder den Präsidentenpalast, und Guzmán selbst, dessen mehrstündiger Film „La Batalla de Chile“ („Der Kampf um Chile“) damals um die Welt ging (nachdem der Diplomat Edelstam die Filmrollen außer Landes gebracht hatte), spricht über seine 14 Tage als Gefangener im Nationalstadion von Santiago.

Die fünf anderen Filme, die dem Buch beiliegen, entstanden bereits in den ersten Jahren der Diktatur. Hergestellt wurden sie in der DDR von den Filmemachern Walter Heynowski und Gerhard Scheumann mit Material des bundesdeutschen Kameramanns Peter Hellmich, dem ebenso spektakuläre wie bewegende Aufnahmen gelungen waren. Für „Ich war, ich bin, ich werde sein“ erhielt er aufgrund einer Liste Zutritt zu den Konzentrationslagern Chacabuco in der Atacama-Wüste und Pisagua am nördlichen Küstenstreifen. Weder die Militärs noch die Insassen wussten, wer der Kameramann war und wer ihn geschickt hatte. In Dutzenden von gefilmten Kurzstatements konnte belegt werden, welche Personen dort einsaßen und wessen sie beschuldigt wurden bzw. ob ihnen überhaupt ein Grund für die Inhaftierung bekannt war. Angesichts der Praxis des Verschwindenlassens besaß der Film eine existenzielle Bedeutung: Er gab vielen Chilenen im In- und Ausland Zeugnis vom (vorläufigen) Überleben ihrer Verwandten, Freunde und Genossen.

Heynowski und Scheumann brachten in kurzer Folge weitere Chile-Dokumentationen heraus. „Der Krieg der Mumien“ zeichnet die Aktionen von Großunternehmen und konservativen Politikern nach, die, unterstützt von der US-amerikanischen CIA, Allendes Regierung destabilisierten. Die Rolle der Oberschicht in den drei Jahren der Unidad Populär steht im Mittelpunkt von „El golpe blanco – Der weiße Putsch“. Zwei Frauen, deren Männer im ersten Jahr der Militärdiktatur ermordet wurden, kommen in „Die Toten schweigen nicht“ zu Wort. Selbstverständlich dienten diese Streifen damals auch propagandistischen Zwecken. Man muss aber lediglich einige Formulierungen in Kalter-Krieg-Rhetorik gedanklich abschwächen oder ein paar auf prägende Wirkung abzielende Filmschnitte ausblenden, und schon erhalten auch heutige Zuschauer wichtige Erkenntnisse, die über die allgemein gehaltenen medialen Rückblicke weit hinausreichen.

Autor: Thomas Völkner


Diktatur und Widerstand in Chile, (Reihe „Bibliothek des Widerstands“, Band 29)

361 Seiten plus 2 DVDs, Hamburg: Laika-Verlag 2013

ISBN 978-3-942281-65-2, EUR 29,90

 

Weitere Informationen:

In Folge 24 des Adveniat-Podcasts „Hörpunkt Lateinamerika“ finden Sie einen Beitrag über Helmut Frenz, den 2011 verstorbenen „Roten Pastor“ der evangelisch-lutherischen Auslandskirche in Chile, der die Flucht zahlreicher chilenischer Oppositioneller zu organisieren half:

http://www.blickpunkt-lateinamerika.de/podcast/msg/podcast%3A_hoerpunkt_lateinamerika_folge_24.html

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