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Brasilien |

"Die Menschen halten Lula für einen Heiligen"

Gilmar Mendes (Foto: Thomas Milz)
Gilmar Mendes (Foto: Thomas Milz)

Zuletzt hatte sich Mendes gegen die Aufhebung des „Foro Privilegiado“ ausgesprochen, also das Recht von Amtsträgern, nicht vor normalen Gerichten, sondern vor dem STF angeklagt zu werden. Dabei dauern die Prozesse vor dem STF in der Regel wesentlich länger als in den normalen Instanzen - womit das „Foro“ den der Korruption beschuldigten Politikern also einen gewissen Schutz vor Strafverfolgung bietet. Mendes sieht das anders, wie er bei einem Gespräch in Rio de Janeiro klarstellte.

 

Blickpunkt Lateinamerika:Sie haben vor einigen Tagen erklärt, dass Brasiliens Justiz äußerst ineffizient und langsam sei. Im Fall von Ex-Präsident Lula da Silva hat sie sich jedoch sehr effizient gezeigt, Lula wurde in Rekordzeit verurteilt. Zudem lehnte das Oberste Gericht Einsprüche des Ex-Präsidenten ab. So mancher in Brasilien denkt, dass das Oberste Gericht bei der Hexenjagd gegen Lula mitmacht...

 

Gilmar Mendes: Ich denke, dass diese Einschätzung falsch ist. Von den elf Obersten Richtern (des STF) sind nur drei nicht von Lula oder (seiner Nachfolgerin und Parteikollegin) Dilma Rousseff ernannt worden. Sollte etwa ausgerechnet dieses Gericht Lula verfolgen? Ich glaube, dass man gegen alle politischen Lager gleichermaßen vorgeht.

 

Aber schauen Sie sich die Geschichte Brasiliens der letzten Jahrzehnte an: Die Regierung hatte meist eine sehr schwache Basis im Kongress. Deshalb verteilte man wichtige Ministerien an diverse Parteien. Es gab stets Gerüchte über Korruption hier und da. Aber normalerweise versuchten die Präsidenten, das unter Kontrolle zu halten. Aber bei der PT (Lulas Arbeiterpartei „Partido dos Trabalhadores“) war das anders. Im ersten Mandat Lulas (2003 - 2006) hat die PT kleineren Parteien gesagt: Ihr bekommt kein Ministerium, dafür werden wir Euch aber Geld geben. So kam es zu dem „Mensalão-Skandal“ (2005/6) - das war eine Bezahlung der Parteien für ihre Unterstützung.

 

Und noch während die Prozesse des „Mensalão“ (vor dem STF) liefen, wurde dieses neue Korruptionsnetz aufgebaut, der „Petrolão“. Man hat die Verträge des größten Unternehmens Brasiliens, der Petrobras, dazu genutzt, um die schwarzen Kassen der Parteien zu füllen. Das ist die Realität, und keine Hexenjagd. Das ist alles belegt.

 

Sie sprechen sich dagegen aus, das „Foro“ abzuschaffen. Stattdessen fordern sie eine tiefgreifende Reform des gesamten Justizapparats. Man könnte meinen, Sie werfen da kräftig mit Nebelkerzen - und ausgerechnet jetzt, da es für Politiker des rechten Lagers eng wird.

 

Nein, nein, ich habe diese Diskussion schon viel früher angestoßen. Ich denke, dass jetzt die beste Gelegenheit ist, um über Reformen des Justizsystems zu diskutieren. Einfach nur das „Foro“ abzuschaffen, bringt nichts. Das sind Peanuts, hat keinerlei Bedeutung….

 

Hätte Ex-Präsident Lula da Silva das „Foro", wäre er jetzt noch frei und in Sicherheit. Und nicht (von der normalen Justiz verurteilt und deshalb) im Gefängnis.

 

Wieso wäre er in Sicherheit?

Weil das Oberste Gericht bisher noch niemanden verurteilt hat, der durch das „Foro“ beschützt ist.

Im „Mensalão-Prozess“ (2012) haben wir allen den Prozess gemacht. (Ex-Minister) José Dirceu musste ins Gefängnis, obwohl er über das „Foro“ verfügte.

 

Aber schauen Sie, oft hängt die Geschwindigkeit, mit der einzelne Prozesse verhandelt werden, ja davon ab, ob es überhaupt ausreichend Beweise gibt. Beim Obersten Gericht liegen derzeit eine Menge Fälle, in denen noch ermittelt wird - ohne, dass eine Anklage bisher in Aussicht steht.

 

Aber natürlich kommt es vor, dass das STF langsamer ist (als die normale Justiz). Aber wenn das STF einmal sein Urteil gefällt hat, gibt es dagegen keine Berufung mehr. Denn wir sind die letzte Instanz. Ich bin mir nicht sicher, ob Lula vor dem Obersten Gericht genauso schnell verurteilt worden wäre. Aber dass der Prozess auch vor dem STF gelaufen wäre, ist sicher.

 

Es scheint mir also nicht wichtig zu sein, ob er über das „Foro“ verfügt oder nicht. Lulas Problem ist, was er gemacht hat oder nicht. Gegen Politiker aller Lager wird ermittelt, auch gegen Präsident Michel Temer und gegen den Senator Aécio Neves, (die das „Foro" haben). Es hat also nichts mit dem „Foro“ oder der Parteizugehörigkeit zu tun.

 

In Teilen der Bevölkerung hat man aber dieses Gefühl, dass man gegen Lula besonders streng ist…

 

Ich verstehe das ja auch. Wenn man im Nordosten unterwegs ist, merkt man, dass Lula dort keine normale Person ist. Er wird verehrt wie der (katholische Volksheilige) Padre Cícero. Klar, dass die Menschen dort glauben, dass Lula Opfer einer Hexenjagd ist. Aber natürlich weiß die PT selber, dass es keine Hexenjagd gegen sie gibt.

 

Politiker aller Lager haben derzeit etwas an der Justiz auszusetzen. Aber zu sagen, dass es eine Hexenjagd gegen eine politische Partei gibt, das geht nicht. Ja, das Justizsystem ist im Allgemeinen sehr ineffizient. Aber politisch einseitig ist es nicht.

Derzeit gibt es einen Disput über den „Marco Temporal“. Dieses Zeitfenster besagt, dass Indigene nur die Gebiete erhalten dürfen, die sie auch tatsächlich zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Verfassung am 5. Oktober 1988 besiedelt haben. Vertreter der Kirche und indigener Organisationen sprechen sich deshalb gegen den „Marco Temporal“ aus. Wie ist Ihre Position?

Ich halte den „Marco Temporal“ für angemessen. Man muss halt eine Zeitmarke setzen, und im Präzedenzfall (des Indigenengebietes „Raposo Serra do Sol“) hat das Oberste Gericht die Zeitmarke auf den 5. Oktober 1988 gesetzt.

 

Aber gleichzeitig haben wir gesagt, dass dies nur für die Demarkierung (Grenzziehung anhand anthropologischer Kriterien) der Gebiete gilt. Wenn man Gebiete neu einrichten will, weil zum Beispiel die indigene Bevölkerung dort gewachsen ist, so darf man dafür nicht den Prozess der Demarkierung anwenden. Sondern man muss Gebiete zukaufen oder enteignen. Der Staat bezahlt also Entschädigungen, und zwar zum Marktpreis.

 

Aber wenn man den „Marco Temporal“ anwendet, werden die Zwangsvertreibungen von Indigenen von ihren Gebieten während der Militärdiktatur ungesühnt bleiben. Ist es gerecht, dass die Indigenen das Recht auf ihr Land verlieren, nur weil sie vor 1988 vertrieben wurden?

 

Ich war vor Kurzem in Bahia, auch dort gibt es Konflikte um die von den Pataxós beanspruchten Gebiete. Angeblich geben sich dort viele Leute als Indigene aus, obwohl sie es nicht sind. Und das hat die restliche Bevölkerung gegen sie aufgebracht. Es gibt bei diesem Thema also ein großes Durcheinander. Aber es muss nun einmal ein Minimum an Rechtssicherheit geben.

 

Sie halten den „Marco Temporal“ also für gerecht? Die Guarani-Kaiowa in Mato Grosso do Sul, die seit Jahrzehnten am Straßenrand leben und auf eine Landzuteilung warten, hätten keinerlei Anspruch mehr?

 

Im Großen und Ganzen denke ich, dass der „Marco Temporal“ korrekt ist. Aber natürlich muss man eventuell Einzelfälle prüfen. Was die Guarani-Kaiowas in Mato Grosso do Sul angeht, so hat sich die Zahl der Indigenen dort stark vergrößert, weshalb die vor langer Zeit demarkierten Gebiete heute nicht mehr ausreichen. Das Oberste Gericht stellt sich nicht dagegen, dass diese Gebiete erweitert werden. Aber das muss dann halt durch den Zukauf von Land durch den Staat passieren.

 

Interview: Thomas Milz

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