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"Defekte Demokratie" - Interview zu Perus politischer Krise

Die Absetzung von Perus Ex-Präsident Martín Vizcarra hat das Land ins politische Chaos manövriert. Professor Salomón Lerner Febres erklärt im Interview, welche Defizite er in Perus Demokratie erkennt – und was sein gebeuteltes Land jetzt braucht.

Protest in Peru nach der Absetzung von Ex-Präsident Martín Vizcarra. Foto: Samantha HareProtests in Lima - November 12CC BY 2.0

Zur Person:  Salomón Lerner Febres ist emeritierter Professor und ehemaliger Rektor der Päpstlichen katholischen Universität von Lima (PUCP). Er ist 76 Jahre alt und hat die Wahrheitskommission Perus zwischen 2000 und 2003 geleitet. Deren Aufgabe war es die Menschenrechtsverbrechen während des Bürgerkrieges (1980-2000) zu dokumentieren. Lerner ist ein aufmerksamer Beobachter des politischen Geschehens und bildungspolitischer Analyst.

Peru droht im politischen Chaos zu versinken – das Parlament hat sich gegen den Präsidenten selbständig gemacht, dessen politische Reformen blockiert und dagegen sind die Menschen auf die Straße gegangen. Ist das politische System noch reformierbar?

Wir erleben eine politische Tragödie in mehreren Akten, denn Präsident Vizcarra hatte schließlich Ende September 2019 das Parlament aufgelöst, weil die Mehrheit der Abgeordneten seine Reformagenda blockierte. Die Neuwahlen im Januar 2020, so die Hoffnung, sollten Präsident Vizcarra mehr Rückhalt für seine Reformagenda verschaffen, in der der zentrale Punkt die Korruptionsbekämpfung war.

Doch das Gegenteil ist eingetreten, wie das Misstrauensvotum vom 9. November zeigt: Der Präsident wurde wegen „moralischer Unfähigkeit“ entlassen. Das ist eine Verfassungsfigur, die bereits in der Vergangenheit missbraucht wurde, um Politik im Dienste der Abgeordneten zu machen. Martín Vizcarra ist das Opfer der Abgeordneten. Bis zum September 2019 dominierte die korrupte Fujimori-Partei „Fuerza Popular“ das Parlament und machte Politik gegen den Präsidenten, ab Anfang 2020 waren es dann mehrere kleine Parteien, die sich im Eigeninteresse gegen den Präsidenten verbündeten. Die Parlamentarier haben ihr Mandat missbraucht und das Land in eine gravierende politische Krise gestürzt.

"Die Gewaltenteilung hat in Peru in der Praxis kaum funktioniert"

Davon hat es in den vergangenen Jahren viele gegeben. Alle Präsidenten seit 1990 mussten sich wegen Korruption verantworten – von dem Autokraten Alberto Fujimori bis Pedro Pablo Kuczynski. Letzterem folgte Martín Vizcarra als damaliger Vizepräsident, nachdem Kuczynski wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten war. Wo hakt es im demokratischen System Perus – Korruption auf politischer Ebene scheint systemimmanent?

Gegenfrage: Wann hat es jemals in Peru ein funktionierendes demokratisches System gegeben? Es gab die eine oder andere ehrenwerte Figur, aber was uns Peruaner fehlt, ist eine funktionierende politisch agierende Zivilgesellschaft, die darauf achtet, dass sie durch die Parlamentarier repräsentiert wird.

Das ist das Dilemma der letzten mindestens vierzig Jahre der peruanischen Geschichte. Zeitweise hat sich das Parlament der Exekutive untergeordnet, gleiches gilt für die Judikative – die Gewaltenteilung hat in Peru in der Praxis kaum funktioniert. Wir haben eine defekte Demokratie, wir brauchen mehr zivilgesellschaftliche Bildung.

Hinzu kommt, dass es keine funktionierende Parteienlandschaft mehr gibt. Wir haben es vor allem mit Wahlbündnissen wie Perú Posible, Perú Unido oder dergleichen zu tun. Deren Halbwertszeit sinkt und viele existieren oft nur eine Legislaturperiode und verfolgen vor allem die persönlichen Ziele ihrer Gründer. Ein Beispiel: Die Besitzer von privaten Unternehmer haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr politisch engagiert. Dahinter steckt ein Eigeninteresse, denn Präsident Martín Vizcarra hat eine Überwachungsstelle für die Qualität der Bildungsinstitutionen ins Leben gerufen und dagegen ziehen diese fragwürdigen Universitätsbetreiber ins Feld – natürlich geben sie vor sich für das Land zu engagieren. Zwei Beispiele sind Podemos und Alianza por el Progreso. Eine andere Partei, in denen der Betreiber einer Universität eine wichtige Rolle spielt, ist Acción Popular. Diese Partei hat das Misstrauensvotum gegen Martín Vizcarra mit auf den Weg gebracht.

Parteipolitik ist also zur Interessenpolitik mutiert?

Ja, genau. Ob in der Bildungspolitik, im Bergbau oder in anderen Sektoren der Ökonomie, Parteien verfolgen immer weniger eine parteipolitische Programmatik und immer öfter Sonderinteressen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder Personen. Darunter auch eigennützige Motive wie die Verhinderung von staatsanwaltlichen Ermittlungen. Derzeit wird gegen 68 der 130 Abgeordneten ermittelt. Die haben kein Interesse an der Umsetzung der politischen Agenda des Präsidenten Martín Vizcarra, der gegen die omnipräsente Korruption in Wirtschaft, Politik und Justiz vorgehen wollte. Ehrenwerte Politiker, die das Landeswohl im Blick haben, sind in Peru Mangelware geworden. Der Verfall der Apra, der einst sozialdemokratischen Partei Perus ist dafür das beste Beispiel. Sie mutierte zur Wahlplattform von Ex-Präsident Alan García, der sich angesichts von Korruptionsermittlungen 2019 das Leben nahm und ist heute nicht mehr im Parlament vertreten.

"Wir brauchen eine Erneuerung unserer Demokratie" 

Alle Präsidenten Perus seit 1990 mussten sich wegen Bestechung durch den brasilianischen Baukonzern Odebrecht verantworten – auch der Hoffnungsträger Alejandro Toledo, der im Jahr 2000 auf den Autokraten Alberto Fujimori folgte. Hat das den Neustart der Demokratie beschädigt?

Ohne Zweifel, aber Alberto Fujimori war selbst bereits ein Produkt einer nicht funktionierenden Demokratie – er wurde in einer massiven ökonomischen, politischen und militärischen Krise gewählt, die sein Vorgänger Alan García nicht gelöst, sondern verschärft hatte. Im Wahlkampf setzte Fujimori sich gegen Mario Vargas Llosa, den Schriftsteller und Nobelpreisträger, durch, der für harte ökonomische Reformen eintrat – die Mehrheit der Bevölkerung votierte dann für den weitgehend unbekannten Fujimori. Der brachte die neoliberalen Reformen dann auf den Weg und baute seine Macht aus – er errichtete ein autoritäres System und stützte sich auf die Militärs.

Alejandro Toledo war damals ein Hoffnungsträger, ein Präsident, der viel Zuspruch aus der indigenen Bevölkerung erhielt, aber den demokratischen Neuanfang und die Aufarbeitung der Verbrechen des Bürgerkrieges (1980-2000) gegen den Leuchtenden Pfad (marxistisch-leninistische Guerillaorganisation in Peru a. d Red.) und die revolutionäre Bewegung Túpac Amaru (MRTA) gegen den Widerstand des Fujimori-Lagers und der Militärs nicht bewältigte. Obendrein ließ er sich vom Odebrecht-Konzern mit Millionen US-Dollar bestechen und sitz derzeit in Auslieferungshaft in den USA.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass es am politischen Willen fehlt, demokratische Strukturen neu aufzubauen. Ist dem so? Und welche Rolle spielen die Proteste der vergangenen Woche gegen das Parlament, dass den Präsidenten Martín Vizcarra entließ?

Ich persönlich setze meine Hoffnungen auf die Protestbewegung, die von den jüngeren Generationen geprägt wird – wir brauchen eine Erneuerung unserer Demokratie. Dafür ist auch ein besseres Bildungssystem notwendig, dass den Schülern demokratische Werte vermittelt. Da herrscht ein immenses Defizit und das spiegelt sich auch im Bildungsetat wieder: statt sechs Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) wie es in der Verfassung fixiert ist, wird in Peru nur knapp die Hälfte des BSP in die Bildung investiert. Das hat Folgen und davon werden wir gerade Zeugen.

Der neue Übergangspräsident Francisco Sagasti hat in seiner Antrittsrede klargemacht, dass er mehr für die Bildung tun wolle. Das ist positiv, doch auch er hat wie Vizcarra keine Mehrheit im Parlament und seine Möglichkeiten sind begrenzt, denn im April 2021 stehen bereits Präsidentschaftswahlen an und glaubwürdige Kandidaten sind wie so oft in Peru Mangelware.

Das Gespräch führte Knut Henkel

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