Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.
Haiti |

Das Land der chronischen Krise

Anhaltende Proteste bringen Haiti dem Abgrund näher und die Regierung ins Wanken.

Haiti Karibik Armut

Foto (Junge in Port-au-Prince): Adveniat/Florian Kopp

Reifen brennen, ein LKW steht in Flammen, Steine fliegen auf vorbeifahrende Fahrzeuge. Der Protesttag am Treffpunkt an der Flughafen-Kreuzung, die seit ein paar Wochen nur noch „Platz des Widerstands“ genannt wird, beginnt wie so viele in den vergangenen Monaten in Haiti. Nahe dem Flughafen von Port-au-Prince nehmen mehrere tausend Menschen Aufstellung zum langen Marsch auf die US-Botschaft. Ein Gesandter des Washingtoner Außenministeriums ist an diesem Freitag in der Hauptstadt, um zwischen der Opposition und der Regierung von Präsident Jovenel Moïse eine Lösung der monatelangen Krise zu vermitteln. Aber die Opposition, ausnahmsweise mal geeint, denkt überhaupt nicht ans Verhandeln und fordert ein Ende der Washingtoner Unterstützung für den verhassten Staatschef. 
 
Nach zwei Wochen Pause bläst Haitis Opposition zur finalen Attacke. Am Donnerstag begannen die Demos in Gonaïves im Landesinneren, am Freitag auch wieder in Port-au-Prince. Bis Anfang Januar werde der Staatschef gestürzt, versprechen die Oppositionsführer. Dann endet das Mandat eines Teils des Parlaments und die Haitianer fürchten, dass Moïse dann per Dekret regieren wird. 

Korruptionsvorwürfe gegen den Präsidenten
 
Seit Mitte September herrscht faktisch Ausnahmezustand in der Karibikrepublik. Unbeachtet vom Rest der Welt hat sich das ärmste Land der westlichen Hemisphäre zu einem weiteren lateinamerikanischen Krisenherd entwickelt. Die Proteste sind vergleichbar mit denen von Chile oder Kolumbien. Ein wütendes Volk geht gegen die Regierung auf die Straße, der sie Unfähigkeit, Korruption und Repression vorwirft. 
 
Nur wie immer ist in Haiti alles ein gutes Stück dramatischer als anderswo. Das Leid ist größer, die Wut auch, und in der Folge sind auch die Auseinandersetzungen härter. Der Funken, der das Pulverfass zum Explodieren brachte, war eine Untersuchung, die den Präsidenten in einen der größten Veruntreuungsskandale der Geschichte des Landes verwickelt sah. Rund zwei Milliarden Dollar sollen zwischen 2008 und 2015 aus dem venezolanischen Solidaritätsfonds Petrocaribe abgezweigt worden sein. Einer der Hauptkorrupten offenbar: der damalige Unternehmer Moïse mit seiner Firma Agritrans.
 
Seit Beginn des Aufstands vor bald drei Monaten, in den sich auch von Politikern bezahlte Gangs und kriminelle Banden mischen, kamen laut UN-Angaben 42 Menschen ums Leben. Eine Zahl, die Rosy Auguste von der haitianischen Menschenrechtsorganisation RNDDH, für viel zu niedrig hält: „Wir gehen von mehr als hundert Toten aus“, sagt die Anwältin im Gespräch. 

Hauptstadt von der Außenwelt abgeschnitten
 
Haiti, ohnehin seit Jahrzehnten gebeutelt von Armut, Naturkatastrophen und politischem Chaos, fiel in totalen Stillstand. Schulen und Universitäten schlossen. Erst jetzt öffnen sie allmählich wieder. Geschäfte, Restaurants und Banken machten dicht. Täglich wurde irgendwo von irgendwem eine Barrikade auf einer der Straßen errichtet. Port-au-Prince, in dessen Großraum knapp fünf der elf Millionen Einwohner Haitis leben, war bis jetzt faktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Die wirtschaftlichen Aktivitäten kamen zum Erliegen. „Pays Lock“ nennen das die Haitianer mit schwarzem Humor. Geschlossenes Land. 
 
Banden forderten Wegzoll, entführten oder erschossen Passanten. In dem Land, das ohnehin einen schwachen Staat hat, herrschte die völlige Gesetzlosigkeit. Präsident Moïse traut sich nicht mehr in die Öffentlichkeit. Wenn er sich im Land bewegt, muss er um sein Leben fürchten. Nur die wenigen Kilometer von seinem Haus oberhalb des bourgeoisen Stadtteils Pétionville bis zum Präsidialamt im Zentrum von Port-au-Prince kann er sicher zurücklegen. „Das ist der Teil des Landes, über den er herrscht“, spottet der Filmemacher Arnold Antonin. „Die Wirtschaft Haitis werde auch wegen dem „Pays Lock“ dieses Jahr um 1,2 Prozent schrumpfen, sagt der Ökonom Kesner Pharel voraus.
 
Dies trifft besonders die Millionen Haitianer hart, die in der Schattenwirtschaft und vom Verkauf irgendwelcher Gebrauchsgüter am Straßenrand überleben. „Diese Menschen leben mit einem, maximal zwei Dollar am Tag. Verkaufen sie nichts, essen sie nichts,“ betont Rosy Auguste. Die Proteste hätten nur deshalb jetzt nachgelassen, weil die Menschen wieder arbeiten müssten. „Aber an der Wut und der Unzufriedenheit hat sich nichts geändert“. 

Demonstranten fordern Rücktritt des Präsidenten und Gerechtigkeit

Die aktuelle Krise hat ihren Ursprung im Juli 2018, als Moïse über Nacht die Benzinpreise um bis zu 50 Prozent erhöhte. Spätestens da verlor die Bevölkerung das Vertrauen in den Präsidenten, der im Februar 2017 als praktisch Unbekannter, aber als Kumpel des scheidenden Amtsinhabers Michel Martelly ins Amt gewählt wurde. An der Stichwahl nahmen damals gerade 20 Prozent der Wahlberechtigten teil. „Für Moïse haben 600.000 Haitianer gestimmt. Er hat keinerlei Legitimation“, argumentiert Bernard Craan, Vorsitzender der haitianischen Industrie- und Handelskammer CCIH. Der Banker macht sich für eine Übergangsregierung stark, die das Mandat des Präsidenten bis 2022 zu Ende bringt. 
 
Der 51-Jährige Staatschef hat es in kurzer Zeit geschafft, alle gesellschaftlichen Sektoren gegen sich aufzubringen. Kirche, Unternehmer, Frauenverbände, Gewerkschaften, Künstler, selbst Teile der Polizei haben sich an den Protesten der vergangenen Wochen beteiligt. Und alle verlangen vom Präsidenten Rechenschaft darüber, wo die Milliarden aus dem Petrocaribe-Fonds geblieben sind. 
 
So wie in anderen Teilen Lateinamerikas wird der Protest auch in Haiti entscheidend von jungen Leuten getragen, die sich selber „Petrocaribe-Challenger“ nennen. Sie fordern nicht nur den Rücktritt des Staatschefs, sondern eine andere Gesellschaft. „Neue Politiker, ein gerechtes System, das Ende der kleptokratischen Eliten“, sagt Pascale Solage, das bekannteste Gesicht der „Petrochallenger“. „Korruption und Straffreihet müssen ein für allemal enden“, fordert sie.

Autor: Klaus Ehringfeld, Haiti

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