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Buchbesprechung: "Der König der Favelas"

Misha Glenny, Der König der Favelas. Foto: Klett-Cotta
Misha Glenny, Der König der Favelas. Foto: Klett-Cotta

Es muss ein gespenstisches Bild gewesen sein, das sich Augenzeugen in jener Nacht bot: Vertreter der Polícia Militar (PM), der Polícia Civil (PC) und der Polícia Federal (PF), der drei verschiedenen Polizeikräfte Rio de Janeiros, stehen kurz nach Mitternacht des 10. November 2011 mit gezogenen Waffen auf dem Parkplatz des alten Marineklubs um einen dunklen Toyota Corolla - und streiten sich untereinander, die gezückten Pistolen aufeinander gerichtet, wer zuständig sei und ob der Kofferraum überhaupt geöffnet werden dürfe.

Neben ihnen stehen die Wageninsassen, es sind drei renommierte Anwälte. Einer von ihnen gibt sich als Honorarkonsul der Demokratischen Republik Kongo aus, was die Situation noch verworrener macht. Er pocht auf seine diplomatische Immunität, um eine Durchsuchung des Wagens zu verhindern. Nach langwierigen Verhandlungen einigt man sich schließlich, den Kofferraum gemeinsam zu öffnen.

Zum Vorschein kommt ein zusammengekauerter Mann, der "mit angezogenen Knien daliegt wie ein Embryo", schreibt Misha Glenny in seinem Buch "Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption". Der schlanke Mann in einem schlichten blau-weiß gestreiften Hemd ist kein Geringerer als Antônio Francisco Bonfim Lopes, kurz "Nem da Rocinha", "Nem aus Rocinha". Er ist einer der mächtigsten Drogenbosse Rios - und der meistgesuchte Gangster Brasiliens.

Das absurde polizeiliche Kompetenzgerangel bei Nems Verhaftung nimmt der britische Journalist Misha Glenny als Einstieg, um die Lebensgeschichte eines Mannes zu erzählen, der eher zufällig zum Chef des Drogenhandels in Rios größter Favela aufstieg. Ein zurückhaltend auftretender Mann, den Glenny einen "aufgeklärten Despoten" nennt, weil unter seiner Herrschaft die Gewalt in Rocinha deutlich zurückging.

Umfassende Nachforschungen in den Favelas von Rio

Glenny hat aufwändig recherchiert, mehrere Monate vor Ort gelebt, viele Weggefährten Nems interviewt - und Nem zu langen Gesprächen im Staatlichen Hochsicherheitsgefängnis von Campo Grande getroffen, wo dieser bis heute einsitzt. Herausgekommen ist ein kenntnisreiches Buch, das in die spezielle Welt einer Favela einführt und parallel dazu die wechselvolle Geschichte Brasiliens seit den 70er Jahren erzählt.

Nem wuchs in einfachen Verhältnissen in Rocinha auf - einer Stadt in der Stadt mit heute rund 120.000 Bewohnern, einer Favela, deren Gassengewirr sich die geschwungenen Berghänge Rios hinaufzieht, umgeben von Leblón, Lagoa und Ipanema, drei der besten Viertel der Stadt. Nem hatte keinen Kontakt zu den "traficantes", bis er eines Tages keinen anderen Ausweg sah, als den damaligen "dono do morro", den "Don des Hügels" um einen Kredit zu bitten, um die Behandlung seiner schwerkranken Tochter zu bezahlen.

"Er wäre nie Drogenboss geworden, wenn seine Tochter nicht krank gewesen wäre", ist sich Glenny sicher. Ob man das mit derartiger Bestimmtheit sagen kann, sei dahingestellt. Es folgte jedenfalls der Aufstieg des stillen Nem. Als er dann Chef war, hielt Nem seine Jungs an, nicht überall mit ihren schweren Waffen zu protzen, er versuchte, Blutvergießen möglichst zu vermeiden und trat als Gönner auf, der Arme mit Lebensmitteln versorgen ließ. "Nem ist kein Vorbild, aber er ist auch nicht der Teufel", urteilt Glenny am Ende des Buches.

Die Unterschiede zu Mittelamerika und den Andenländern

Auch wenn Glenny manchmal die notwendige Distanz zu seinem Protagonisten fehlt, etwa wenn er ihn zu einem Robin Hood der Favelas verklärt, und die Fülle an Namen und geschilderter Details, zum Beispiel in den Kapiteln über die Rocinha-Bosse vor Nem, gelegentlich überfordern, ist "Der König der Favelas" ein informatives und spannendes Buch. So erfährt man etwa, wie sich der Kokainhandel von den Produzentenländern der Andenregion langsam nach Brasilien ausbreitete. Es waren "Garimpeiros", Goldgräber, die tief im Amazonas nahe der Grenze zu Bolivien, Peru und Kolumbien als erste in Kontakt mit Kokain kamen - zunächst vor allem zum Eigengebrauch, um die anstrengende Arbeit in den Goldminen zu verrichten. Doch dann begannen in den 80er Jahren einige, Kokain als so genannte "Matutos", als freischaffende Drogenkuriere, kiloweise in die großen Metropolen des Landes zu bringen und dort zu verkaufen.

Lesenswert sind auch die Hintergründe, die im Laufe der 80er zum Auftauchen großer Drogenbanden in Rio und São Paulo führten. Denn sowohl das "Rote Kommando" (CV) Rios wie auch São Paulos "Primeiro Comando da Capital" (PCC) entstanden teilweise als Reaktion auf die unmenschlichen Haftbedingungen in Brasiliens Gefängnissen, und beide Organisationen hatten anfänglich durchaus soziale Anliegen - bevor sie professionell arbeitende Verbrecherbanden wurden, die strenge Regeln auferlegen und Zuwiderhandeln oft mit dem Tode bestrafen.

Viel Action im Leben des Robin Hood von Rio de Janeiro

Weniger glaubhaft wird es, wenn Glenny Situationen und Feuergefechte, Menschen und ihre Gefühle, in seinem Buch so beschreibt, als sei er selber dabei gewesen. Dieser thriller-artige Stil ("Fast konnte er den nahen Hauch des Todes im Nacken spüren.") mag ein Zugeständnis an das breite Publikum sein, das Glenny nach eigener Aussage erreichen möchte. Als Leser hätte man sich aber mehr Analyse statt literarisch-reißerischer Nacherzählung gewünscht. So kommt die Frage der strukturellen Gewalt der Polizei gegen junge schwarze Arme - speziell auch der jahrelangen sinnlos blutigen Einsätze des BOPE-Sondereinsatzkommandos in den Favelas - ebenso zu kurz wie die Verwicklung der Polizei in den Drogenhandel und die Ausbreitung gewalttätiger Milizen - darunter viele Polizisten - in einem erheblichen Teil von Rios Favelas.

Dafür erläutert Glenny in einem Glossar die wichtigsten brasilianischen Slang-Begriffe, die in einem solchen Buch nicht fehlen dürfen, und beschreibt im Anhang zudem die verwirrende Struktur der dreigeteilten Polizeikräfte Brasiliens. Ihre organisatorische Aufsplitterung ist laut Meinung vieler Experten neben der militärischen Tradition und der schlechten Bezahlung ein wichtiger Grund für die wenig effektive Arbeit der brasilianischen Polizei, der in erster Linie zu Toten in den Armenvierteln führt, und ihre notorische Anfälligkeit für Korruption.

Nem war ein Meister, sich in diesem komplizierten Umfeld von Geben und Nehmen, Leben und Tod zu bewegen - zumindest solange er da hoch oben auf den Hügeln Rocinhas sicher war. Doch kurz vor seiner Inhaftierung in jener Novembernacht des Jahres 2011 war seine Lage ausweglos geworden. Nach Jahren als Don bröckelte seine Autorität, und angesichts der anstehenden Fußballweltmeisterschaft 2014 stand eine Besetzung Rocinhas durch die neu geschaffene "Befriedungspolizei" unmittelbar bevor. Ob er seine Verhaftung tatsächlich selbst arrangiert hat - als Ausweg, um dem Tode zu entrinnen, wie Glenny vermutet -, ist bis heute nicht geklärt. Glenny konfrontiert Nem bei seinem letzten Gefängnisbesuch mit dieser These. "Er antwortet nicht, sieht mich aber an und lächelt verschmitzt."

Autor: Ole Schulz

Misha Glenny:

Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption
Aus dem Englischen von Dieter Fuchs (Original: Nemesis: One Man and the Battle for Rio)
Klett-Cotta, 1. Aufl. 2016, ca. 424 Seiten, gebunden, mit farbigem Bildteil
ISBN: 978-3-608-50335-7

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