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Brasilien: Rote Rosen für 500.000 Corona-Tote

Brasilien hat am Samstag die Marke von 500.000 Corona-Toten überschritten. Nur die USA haben weltweit mehr Corona-Opfer zu beklagen. Am Sonntag gedachte die NGO „Rio de Paz“ am Copacabana-Strand der Toten mit 500 Rosen. Blickpunkt Lateinamerika sprach mit dem Präsidenten von „Rio de Paz“, dem presbyterianischen Pastor Antonio Carlos Costa.

Blickpunkt Lateinamerika: 500.000 Tote. Wie konnte es so weit kommen?

Antonio Carlos Costa: Was wir heute erleben ist symptomatisch für unsere Kultur, die sich dringend ändern muss. Eine Kultur des Improvisierens, des "Lass für morgen, was Du heute tun könntest", verbunden mit einem blinden Gehorsam gegenüber dem Präsidenten. Er ist der Hauptverantwortliche für diese Tragödie. Von Anfang an hat er das tödliche Potenzial der Pandemie kleingeredet, hat aufgefordert, die Corona-Maßnahmen nicht zu respektieren und hat an öffentlichen Anti-Demokratie-Veranstaltungen teilgenommen. Er hat keinen Krisenstab eingerichtet, um dem Land eine einheitliche Corona-Politik zu geben. Deshalb haben wir jetzt 500.000 Tote, dazu Millionen trauernde Brasilianer, unzählige Familien mit Angst vor dem Virus, voller Angst zu sterben oder Verwandte beerdigen zu müssen.

Gleichzeitig nimmt die Armut zu, das Gespenst des Hungers schleicht wieder durch die Häuser der Ärmsten. Und die Gesellschaft applaudiert dem Ganzen noch. Der Präsident genießt blinden, fanatischen Gehorsam, der nicht zu rechtfertigen ist. Denn der Präsident hat nicht nur alle diese Fehler begangen, sondern hat niemals Empathie für unsere Gesellschaft gezeigt. Und diejenigen, die sich an die Corona-Regeln gehalten haben, um noch mehr Tote zu verhindern, hat er obendrein noch als „Schwuchteln“ beschimpft. Er hat einen Realitätsverlust. 

„Rio de Paz“ macht regelmäßig diese Mahnwachen hier am Strand, mal um an die durch Querschläger getöteten Kinder, mal um an die Toten des Drogenkriegs in den Favelas zu erinnern. Ist es der Gesellschaft denn egal, wenn wieder einmal viele Menschen sterben? 

Es gehört zu unserer Kultur, dass die Heiligkeit des Lebens trivialisiert wird, dass für viele Brasilianer menschliches Leben keinen Wert hat. Das geht los bei den Regierenden: Dieses Land hat keine Probleme mit der Verletzung von Menschenrechten, mit sozialer Ungerechtigkeit, mit Machtmissbrauch durch die Mächtigen. Wir leiden meiner Meinung nach an einem zivilisatorischen Defizit. Und es ist mir kein Vergnügen, das einzugestehen. Aber so ist es. 

Wir stehen hier vor derart hohen Zahlen, dass das Land eigentlich innehalten und alles überdenken müsste: Wieso sind wir die Nummer 2 weltweit bei den Corona-Toten? Warum sind wir das neunte Land beim Verhältnis zwischen Toten und Bevölkerung? Und bisher sind erst 11 Prozent der Bevölkerung geimpft. Das sind verheerende Zahlen für unsere Demokratie. 

Wie reagieren die Passanten auf diese Mahnwachen?

Auch an diesem Tag werden wir wieder beleidigt werden. Die Leute werden den Namen des Präsidenten schreien, werden uns Kommunisten nennen, als linke Verrückte bezeichnen. Sie werden sagen, dass wir das Land in ein zweites Venezuela verwandeln wollen. Ein Teil der Gesellschaft ist verhext durch die unbegründete Angst vor dem Kommunismus. Man hat dieses Feindbild erfunden, dieses Gespenst, und ein Teil der Bevölkerung steht dahinter. 

Gleichzeitig haben wir 14 Millionen Arbeitslose, zudem noch 13 Millionen Menschen, die die Suche nach Arbeit bereits aufgegeben haben. Und viele Menschen gehen heute ins Bett mit einem vor Hunger schmerzenden Bauch. In einem Land, das bis vor kurzem die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt war. Ein reiches Land. Wie soll man das erklären? 

Sehen Sie eine Veränderung der Situation, kurz- oder mittelfristig?

Meine Hoffnung ist, dass diese Pandemie den Brasilianern hilft zu verstehen, dass schlechte Politiker den Tod bringen. Und dass wir nicht leichtfertig bei der Wahl der Regierenden sein dürfen. Und ich hoffe, dass die Brasilianer aufwachen und erkennen, dass diese Zahlen den Irrweg der Regierung beweisen, ihre komplette Inkompetenz. Wahrscheinlich wird Brasilien die USA überholen und die weltweit meisten Todesopfer haben. Denn dort ist man mit dem Impfen viel weiter als hier. Für mich ist es undenkbar, dass sich Bolsonaro 2022 wieder zur Wahl stellt, nachdem er diese katastrophale Regierungsarbeit während der Pandemie geleistet hat.  

Brasilien wird stets als sehr religiöses Land dargestellt. Aber es mangelt bei vielen an Empathie. Was läuft da falsch?

Diese Gesellschaft behauptet von sich, christlich zu sein. Überall in der Kultur sieht man die christlichen Züge, die christlichen Namen sind überall präsent. Aber man scheint nicht wirklich zu verstehen, was das Christentum eigentlich bedeutet. Die christlichen Werte scheinen nicht bis ins Herz vorgestoßen zu sein. So scheinen die Menschen einen oberflächlichen Bezug zur Religiosität zu haben, die mehr dazu dient, im harten Alltag Hoffnung zu schöpfen. Religion ist ein Ventil angesichts von Schmerz und Armut, angesichts der Ungewissheiten des Lebens. Die Religion an sich halte ich nicht für ein Opium, aber die Form wie die Menschen sie hier interpretieren und anwenden schon. Und das steckt leider auch hinter dem, was uns heute hier an diesen Strand geführt hat. 500 Rosen haben wir hier, die für 500.000 gestorbene Menschen stehen. Die Hälfte von ihnen könnte noch leben, wenn die Regierung nicht so inkompetent wäre.

 

Corona-Hilfe für Lateinamerika
Die Länder Lateinamerikas zählen fast 35 Millionen Infizierte und fast 1,2 Million Tote, rund die Hälfte davon alleine in Brasilien. Die Wirtschaft bricht ein, die Armut steigt. Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat hilft mit 8,2 Millionen Euro. Helfen Sie mit - Ihre Spende kommt an!

Interview: Thomas Milz

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