Brasilien: Lula und Bolsonaro im "Heiligen Krieg"
Noch nie wurde das Thema Religion derart in einem brasilianischen Wahlkampf missbraucht wie derzeit. Vor der Stichwahl am 30. Oktober buhlen die Kandidaten Lula und Bolsonaro um die Stimmen von Evangelikalen und Katholiken.
Die Situation war neu für Kardinal Odilo Scherer: Am Wochenende sah sich der Erzbischof von Sao Paulo gezwungen zu erklären, warum er rote Kleidung trägt. Wegen des Kardinalspurpurs war er als "Kommunist" beschimpft worden; er sei wohl ein Freund von Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva und wolle wie er Abtreibung legalisieren und eine "linke Diktatur" errichten. Als "Rote" und "Kommunisten" bezeichnet das Lager von Jair Messias Bolsonaro den Herausforderer Lula und seine Anhänger. Es seien seltsame Zeiten, schrieb Scherer später auf Twitter. Er spüre den Aufstieg des Totalitarismus, ja des Faschismus.
Kommunismusvorwurf gegen Lula
Schon in der Woche zuvor hatte Scherer beunruhigende Szenen im Wallfahrtsort Aparecida beobachtet. Bolsonaro hatte dort an einer Messe zu Ehren der "Schwarzen Madonna" teilgenommen, der Schutzpatronin Brasiliens. Mit versteinerter Miene verfolgte er die Messe, weder sang er, noch betete er mit der Gemeinde. Die Einladung zum Abendmahl lehnte er dreimal ab. Vor der Basilika pöbelten derweil einige seiner Anhänger, offenbar angetrunken, gegen Pilger. "Unsere Flagge wird niemals rot sein", riefen sie.
Der linke Ex-Gewerkschaftsführer Lula regierte als Präsident bereits von 2003 bis 2010 - ohne damals eine kommunistische Diktatur aufzubauen. Doch der Wahlkampf hat an Temperatur zugenommen, hauptsächlich durch Hass- und Fake-News-Attacken des Rechtspopulisten Bolsonaro. Aber auch Lula-Anhänger sparen nicht mit Reaktionen. Man bezichtigt sich gegenseitig des Satanismus und der Pädophilie. "Im Wahlkampf geht es gerade höllisch heiß zu", sagt der Anthropologe Flavio Conrado. "Die extreme Rechte dominiert die Sozialen Netzwerke." Und es gebe dort auch eine "evangelikale, konservative Rechte von Pastoren", die Bolsonaro unterstützten.
Hassrede und Fake-News im Netz
Der Ex-Militär behauptet, Lula werde Kirchen schließen, Christen verfolgen, ungeborene Kinder abtreiben und Kleinkinder zu Homosexuellen erziehen lassen. Der Anthropologe Conrado, der die Aktivitäten christlicher Gruppen in Sozialen Netzwerken untersucht, hat zwischen Januar und September rund 13.000 Posts registriert, die von einem angeblich in Brasilien tobenden spirituellen Krieg berichten. "Drogen, Abtreibung und Homosexualität sind Themen, vor denen in den Posts gewarnt wird. Der Kult um Bolsonaro hat unter den Evangelikalen auch den Anti-Kommunismus neu befeuert", so Conrado. Man beschwöre einen Krieg zwischen Gut und Böse und streue "moralische Panik".
Bolsonaro hatte den ersten Wahlgang am 2. Oktober mit 43 zu 48 Prozent verloren; und auch die Umfragen für die Stichwahl am 30. Oktober sehen Lula mit 53 zu 47 Prozent vorn. Bolsonaro bleibt wenig Zeit, das Image seines Gegners zu zerstören. So geht es hoch her zwischen Lula, der in den 70er Jahren von der katholischen Arbeiterbewegung der Industriemetropole Sao Paulo geprägt wurde, und dem Hauptmann aus katholischem Haus, der sich 2016 als Kandidat für die Wahlen 2018 von einem evangelikalen Pastor im Jordan taufen ließ.
Katholiken für mehrheitlich für Lula
Bolsonaro fühlt sich unter Evangelikalen, die 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen und der auch seine dritte Ehefrau Michelle angehört, sichtlich wohler. Ihre Stimmen sicherten ihm 2018 den Sieg. Pfingstkirchen mit ihren eigenen Radio- und TV-Sendern würden oft wie Wirtschaftsbetriebe geführt, weshalb sie die Nähe zur allerhöchsten Politik suchten, erklärt Conrado. Derzeit führt Bolsonaro mit über 60 Prozent bei den Evangelikalen, Lula dagegen bei den Katholiken.
Dass sich die katholische Kirche, anders als die Evangelikalen, nicht öffentlich auf einen Kandidaten festlegt, stört Bolsonaro; genau wie die kritische Haltung ihm gegenüber. Katholische Kirchenvertreter forderten ihn zuletzt mehrmals auf, religiöse Feste nicht für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen. Das Tischtuch scheint zerschnitten. Das färbt auch auf Bolsonaros Wähler ab. Priester berichten, bei Gottesdiensten angefeindet zu werden. Man bezichtige sie, Lula zu unterstützen und für Abtreibung zu sein.
Religion für Wahlkampf missbraucht
In Aparecida kam es zur Störung einer Messe, weil der Priester daran erinnerte, dass Millionen Brasilianer Hunger litten. Für das Bolsonaro-Lager nichts weiter als linke Fake News. Vor einigen Wochen nahm ein vermeintlicher Priester an einer TV-Wahlkampfdebatte teil. Ganz nach Bolsonaro-Manier provozierte er dabei Lula und andere Kandidaten. Bolsonaro nutzte deren harsche Reaktion, um seinen Gegnern Hass gegen Christen vorzuwerfen. Der Provokateur stellte sich später als Fake-Priester heraus.