Brasilien: Internationale Zusammenarbeit fundamental für den Schutz indigener Völker
Die Fachstelle der katholischen Kirche in Brasilien für Indigenenfragen Cimi hat am Mittwoch, 30. September 2020, ihren Jahresbericht zur Gewalt gegenüber den indigenen Völkern Brasiliens vorgestellt. Es handelt sich dabei um Daten aus dem Jahr 2019, dem ersten Jahr unter der Regierung des rechten Ex-Militärs Jair Messias Bolsonaro.
In dem Bericht wurde ein Anstieg der Invasionen in indigene Gebiete von 135 Prozent verzeichnet, von 109 (2018) auf 256 Fälle. Auch die Kindersterblichkeit stieg eklatant von 591 auf nun 825 Fälle in 2019. Wie steht es um die Indigenen in Brasilien? Und welche Tendenzen sind bereits für 2020 - das Corona-Jahr - zu sehen?
Blickpunkt Lateinamerika sprach mit Antonio Eduardo Cerqueira de Oliveira, dem Generalsekretär (Secretário Executivo) von Cimi, über die Situation der indigenen Völker Brasiliens.
Blickpunkt Lateinamerika: Was hat sich von 2018 auf 2019 verändert?
Antonio Eduardo Cerqueira de Oliveira: Es gab einen Anstieg der Gewalt, sowohl gegen Indigene als Personen als auch gegen ihr Land und ihre Besitzungen. Die Gewalt wurde durch Äußerungen des Präsidenten und seiner Regierung angeheizt, die sich gegen die Rechte der indigenen Völker ausgesprochen haben. Sie haben die Bevölkerung geradezu angestachelt, in die indigenen Gebiete einzudringen. In der Öffentlichkeit wurden Indigene als gewalttätige Personen ohne Rechte dargestellt, die man deshalb misshandeln darf.
Cimi zählte einen Anstieg der Invasionen um 135 Prozent. Welche Regionen waren denn besonders betroffen?
In Nordbrasilien lag der Schwerpunkt hauptsächlich in den Bundesstaaten Pará, Mato Grosso, Amazonas und Roraima. Zudem gab es auch viele Fälle in Zentralbrasilien, in Goiás und Tocantins. Hauptsächlich Holzhändler und Goldsucher, die von der Regierung angestiftet wurden, sind in die indigenen Gebiete eingedrungen, um dort illegal Rohstoffe zu fördern, vor allem Gold und Edelhölzer. Aber es gab auch Fälle illegalen Fischfangs auf den Flüssen.
Wie sehen Sie die Arbeit der Umweltschutzbehörden Ibama und ICMBio sowie der staatlichen Indigenenbehörde Funai in 2019?
Es gab kaum Aktivitäten dieser Behörden, schlicht deshalb, weil die Zentralregierung sie daran gehindert hat. Sowohl Ibama, ICMBio, die Funai und auch (die staatliche Landreformbehörde) Incra wurden mit Beamten besetzt, die sich weder um den Schutz der Indigenen noch der Umwelt gekümmert haben. Diese Leute wollen, dass die indigenen Gebiete und die Natur ausgeplündert werden. Damit wurden die Behörden praktisch lahmgelegt und daran gehindert, ihre wichtige Schutzfunktion auszuführen.
Und wenn Beamte doch einmal versucht haben, Bußbescheide auszustellen und illegale Aktionen zu unterbinden, wurden sie entlassen oder versetzt. Bei ICMBio gab es zahlreiche solcher Fälle, aber auch bei Ibama, Incra und der Funai. Ich erinnere daran, dass die Einsatzgruppen der Funai zum Schutz isolierter Indigenengruppen in der Amazonasregion praktisch aufgelöst worden sind, weshalb sie nicht verhindern konnten, dass Nicht-Indigene in die Territorien dieser Völker eingedrungen sind.
Und ich erinnere daran, dass den Funai-Mitarbeitern untersagt wurde, in Indigenengebieten aktiv zu werden, die den Indigenen nicht endgültig gerichtlich zugesprochen sind. Es gab also eine Reihe von Anordnungen, die dazu geführt haben, dass die Behörden nicht voll funktionsfähig waren und ihre Schutzfunktion nicht ausführen konnten, die die Indigenen dringend gebraucht hätten.
Die Kindersterblichkeit hat sich stark erhöht. Was ist denn mit der Sesai, der staatlichen Behörde für die indigene Gesundheit?
Die Zunahme bei der Kindersterblichkeit hängt mit der Auflösung der Strukturen der Gesundheitsbetreuung für die Indigenen zusammen. Denn bis 2018 gab es das staatliche Ärzteprogramm „Mais Médicos“ (mehr Ärzte), von dem auch die Indigenengebiete profitiert haben. Dort waren hauptsächlich ausländische Ärzte im Einsatz, aus Kuba und Venezuela. Allerdings wurden sie Ende 2018 nach Hause geschickt, und ihre Stellen danach nicht adäquat wiederbesetzt. Diese Grundversorgung in den Dörfern gab es 2019 nicht mehr. Und davon am schwersten betroffen waren die Kinder und die Älteren. Bis die Familien in den Krankenhäusern der Städte ankamen, war es oft schon zu spät.
Für 2020 dürften die Zahlen wegen Corona noch schlechter werden, oder?
Rund 800 Indigene sind bereits an einer Corona-Infektion gestorben, und besonders hoch werden die Todeszahlen unter den Älteren sein. Es fehlen zwar noch drei Monate, bis 2020 zu Ende ist, aber wir sehen schon die Tendenz einer zunehmenden Gewalt, einer Zunahme bei den Invasionen und der Kindersterblichkeit. Allerdings dürften die Morde an Indigenen zurückgehen. Denn die Indigenen sind praktisch seit acht Monaten in ihren Gebieten in freiwilliger Selbstisolierung.
Die Zahl der Morde an Indigenen nahm von 135 in 2018 auf 113 in 2019 ab. Was steckt dahinter?
Als der damalige Kandidat Jair Bolsonaro in den Umfragen zulegte, also Mitte 2018, und als er dann auch gewählt wurde, haben wir und andere Indigenenverbände die Anführer der indigenen Gemeinschaften aufgesucht, um ihnen zu sagen, sie müssten nun die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Denn die Tendenz war ja schon abzusehen, dass die neue Regierung die Bevölkerung gegen die indigenen Völker aufbringen würde. Und damit drohten Konflikte, in denen die Indigenen zu Opfern werden würden. Wir haben ihnen also geraten, sich mehr in ihren angestammten Gebieten aufzuhalten und diese zu verteidigen. Gleichzeitig sollten sie verhindern, dass Weiße in ihre Gebiete eindringen, und falls es doch passiert, sich nicht auf Provokationen einlassen.
Wie wichtig sind internationale Kooperationen in Zeiten, in denen die Regierung Kampagnen gegen die NGOs fährt? Präsident Bolsonaro bezichtigt ausländische NGOs ja stets, hinter den Bränden zu stehen, um dem Image der Regierung zu schaden.
Diese Zusammenarbeit ist fundamental, nicht nur für Organisationen wie uns, sondern auch für die indigenen Völker selbst. Warum die Regierung diese Anschuldigungen macht? Sie merkt, dass durch diese Netzwerke ihr Plan nicht aufgeht, die indigenen Strukturen aufzubrechen und die indigenen Territorien für die kapitalistische Ausbeutung freizugeben.
Deshalb intensiviert die Regierung die Attacken auf die internationalen Organisationen und einzelne Länder, damit diese nicht weiter die indigenen Gemeinschaften unterstützen. Die Regierung hofft, dass die Gemeinschaften sich dadurch schwächen und damit weniger Widerstand gegen die Invasionen auf ihre Gebiete leisten können.
Deshalb halten wir diese Hilfe und Kooperation, wie es sie ja auch mit Deutschland gibt, für fundamental. Und die indigenen Gemeinschaften denken genauso.