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Brasilien debattiert über Polizeigewalt

Der Tod einer dunkelhäutigen Achtjährigen während eines Polizeieinsatzes in einem Armenviertel schockiert die Bevölkerung von Rio de Janeiro - und stellt die harte Linie von Gouverneur Wilson Witzel infrage.

Der Tod einer Achtjährigen während eines Polizeieinsatzes schockiert die Bevölkerung von Rio de Janeiro. Foto: Reuters/I. Cheibub

"Witzel, Du Mörder", skandierten Anfang dieser Woche hunderte Demonstranten im Zentrum von Rio. "Hört auf, uns zu töten", hatten sie auf Plakate geschrieben. "Black lives matter", den Slogan der schwarzen Aktivisten in den USA, trugen sie als Aufkleber auf ihren Hemden. Der Grund ihres Zorns: Am Freitagabend war die achtjährige Ágatha Félix in einem Sammeltaxi von einer vermutlich von einem Polizisten abgefeuerten Kugel in den Rücken getroffen und getötet worden.

Die Polizisten, die sich zum Zeitpunkt des fatalen Schusses in dem Favela-Komplex Alemão im Norden von Rio befanden, gaben an, sich lediglich gegen einen Angriff von Drogengangstern verteidigt zu haben. Bewohner bestreiten diese Version. Der Polizist habe auf einen Motorradfahrer gezielt und Ágatha dabei getroffen. Noch laufen die Untersuchungen zum genauen Tathergang. Die Entrüstung ist groß - Ágatha ist bereits das fünfte Kind, das dieses Jahr in Rio durch Querschläger ums Leben kam. Gouverneur Witzel hatte bei seinem Amtsantritt angekündigt, die Drogengangster gnadenlos zu jagen, wer sich nicht ergebe, werde getötet. Seitdem herrscht in den Armenvierteln der Stadt Panik vor der skrupellosen Polizei.

"Das ist sozialer Terrorismus"

Der Politologe Thiago Amparo vom Think Tank Fundacão Getúlio Vargas bezeichnet deren Vorgehen als Staatsterrorismus. "Da kreisen Hubschrauber über Schulen, es gibt Schießereien in dicht besiedelten Wohnvierteln. Das ist sozialer Terrorismus." Und zudem sei dieser rassistisch bedingt. "Wir erleben in Rio ständig Polizeioperationen in Gebieten, in denen die Mehrheit schwarz ist." In den weißen Oberklassevierteln sehe man solche Operationen dagegen nie. Alle fünf getöteten Kinder waren dunkelhäutig. Der Tod Unschuldiger dürfe nicht länger mit Selbstverteidigung gerechtfertigt werden, so Amparo im DW-Gespräch. Gouverneur Witzel stützt seine Politik aber genau auf dieses Argument - selbst wenn die Polizei nicht direkt im Feuergefecht mit den Gangs steht. Das Waffentragen allein rechtfertige das Erschießen von Verbrechern aus Selbstverteidigung. "Man ziele auf ihre Köpfe, und dann: Feuer frei!" - so lautet sein berüchtigter Ausspruch.

In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 hat Rios Polizei bereits 1.249 Menschen getötet, durchschnittlich fünf pro Tag und 16 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Damit steuert Rio auf einen traurigen Rekord zu. "Die Polizei wird dieses Jahr wohl etwa 2.000 Personen töten", sagt der Sicherheitsexperte Ignacio Cano von Rios Landesuniversität UERJ gegenüber der DW. "Und wenn man sieht, mit was für Waffen in dicht besiedelten Gebieten geschossen wird, ist es ein Wunder, dass nicht noch mehr sterben."

Polizeigewalt muss aufhören

Die Soziologin Julita Tannuri Lemgruber vermisst angesichts solcher Zahlen einen größeren gesellschaftlichen Aufschrei. "Das wäre an jedem anderen Ort der Welt ein Skandal. Aber in Rio gehört das mit dazu." "Hier gibt es den weit verbreiteten Glauben, dass man Gewalt mit Gewalt bekämpfen muss. Aber nichts ist falscher, nichts ist unbegründeter als diese These." Die Polizeiarbeit basiere allein auf Konfrontation - um eine intelligente Aufklärungsarbeit schere man sich nicht, resümiert Lemgruber. Auch Sicherheitsexperte Cano fordert ein Ende der Polizeiaktionen. "Die einzige Chance ist, mit den Feuergefechten und dieser kranken Politik des Ausrottens aufzuhören. Solange die nicht beendet wird, werden wir weiter unschuldige Opfer haben."

Gouverneur Witzel sieht seine Null-Toleranz-Politik hingegen als Erfolg. Denn während die Zahl der von der Polizei getöteten Menschen stieg, sank die Zahl der Tötungsdelikte in den ersten acht Monaten insgesamt um 21 Prozent auf nun 2.717 Fälle, den niedrigsten Stand seit 2013. Coronel Robson Rodrigues da Silva, bis Anfang 2016 Subcomandante der Polícia Militar von Rio de Janeiro, sieht im Gespräch mit der DW jedoch keinen Zusammenhang zwischen diesen Zahlen. In 23 der 27 Teilstaaten Brasiliens seien die Tötungsdelikte rückläufig, nicht nur in Rio. Rodrigues hat zudem die Zahlen auf die Ebene der Stadtviertel heruntergebrochen und festgestellt: "Dort, wo die Polizei mehr getötet hat, hat meist auch die Zahl der sonstigen Tötungsdelikte insgesamt zugenommen."

Neues Gesetz sei "Lizenz zum Töten"

Justizminister Sergio Moro will die geltenden Gesetze demnächst weiter verschärfen. Kern seines Anti-Verbrechens-Gesetzespakets ist dabei eine Flexibilisierung des Begriffs der Selbstverteidigung, die der Polizei mehr Spielraum gibt. Eine "Lizenz zum Töten" nennt Lemgruber dies. "Wir hoffen, dass der Fall Ágatha dazu beiträgt, dieses Gesetzespaket im Kongress zu bremsen."

Coronel Robson Rodrigues hält die geplante Neuregelung der Selbstverteidigung für unnötig. "Wir haben ja schon ein entsprechendes Gesetz, und das ist sehr klar. Moros Argument der Flexibilisierung der Selbstverteidigung ist gefährlich und wird die Aufklärung von durch die Polizei begangenen Verbrechen weiter erschweren." Schon jetzt herrsche praktisch Straffreiheit für Polizisten, kaum ein Beamter werde jemals für Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen.

Intelligentere Verbrechensbekämpfung gefordert

"Die internen Kontrollbehörden haben da auch teilweise versagt", so Rodrigues. "Da muss die Staatsanwaltschaft ihr Auge drauf haben. Was derzeit jedoch nicht passiert." Zudem mache es keinen Sinn, ein strukturelles Problem der Polizeiarbeit durch Gesetze beheben zu wollen. Stattdessen müssten die dem Bund und Land unterstellten Polizeibehörden endlich zusammengelegt und auf Ermittlung statt auf Konfrontation ausgelegt werden. "Es gibt intelligentere Formen der Verbrechensbekämpfung als einen ganzen Bevölkerungsteil mitten ins Kreuzfeuer zu setzen", stimmt Politologe Amparo zu.

Gouverneur Witzel beschuldigt derweil Menschenrechtsorganisationen, durch ihre Kritik die Polizeiarbeit zu behindern und damit den Drogenbanden helfen zu wollen. Ignacio Cano wehrt sich gegen solche Vorwürfe. "Wir verteidigen lediglich das Gesetz, und wer hier gegen das Gesetz verstößt, ist der Gouverneur. Wenn die Staatsanwaltschaft von Rio Mut hätte, würde er jetzt wegen Anstiftung zum Mord angeklagt. In einem anderen Land, mit einer unabhängigen und mutigen Justiz, wäre das längst geschehen."

Nach rund 72 Stunden Schweigen hatte sich Witzel schließlich zum Fall Ágatha geäußert. Dabei beschuldigte er seine politischen Gegner, den Fall mit Blick auf die nächsten Wahlen ausschlachten zu wollen. "Da hat er recht - wir müssen dies tatsächlich bei den nächsten Wahlen ausschlachten", entgegnet Sicherheitsexperte Ignacio Cano. "Und zwar um zu hinterfragen, ob es gut ist, Politiker zu wählen, die den Tod propagieren."

Quelle: Deutsche Welle, Autor: Thomas Milz

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