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Bolivien: Expertenbericht wird politisch vereinnahmt

In Bolivien dreht sich derzeit nahezu alles um den Bericht der Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Der bestätigt, dass es vor, während und nach dem unfreiwilligen Rücktritt von Evo Morales im November 2019 massive Verletzungen von Menschenrechten gegeben hat. Doch wer dafür verantwortlich ist und wie ermittelt wird, ist ein Politikum.

Am 18. August 2021 präsentierte die unabhängige Expertenkommission in Senkata im Beisein von Opfern und Angehörigen ihren Bericht über Menschenrechtsverletzungen während des Machtwechsels 2019 in Bolivien. Foto: Senkata 18.8.2021, ABI.BO, Gonzalo Jallasi Huanca 

Am 18. August 2021 präsentierte die unabhängige Expertenkommission in Senkata im Beisein von Opfern und Angehörigen ihren Bericht über Menschenrechtsverletzungen während des Machtwechsels 2019 in Bolivien. Foto: Senkata 18.8.2021, ABI.BO, Gonzalo Jallasi Huanca 

Für Boliviens Präsident Luis Arce ist die Sache klar: Der Bericht der Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission über Menschenrechtsverletzungen zwischen September und Dezember 2019 sei eindeutig. Er werde nun die Empfehlungen der GIEI umsetzen und ein ordnungsgemäßes Verfahren einleiten. Hierfür soll eine Kommission einberufen werden, die eine Zählung der Opfer durchführt und für eine umfassende Entschädigung sorgt. Fälle von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sollen mit Vorrang behandelt werden. Außerdem soll der Erlass 4461 aufgehoben werden, um eine strafrechtliche Verfolgung der beteiligten Mitglieder der Sicherheitskräfte zu ermöglichen. Der Präsident kündigte zudem die Auflösung aller parapolizeilichen Organisationen und Gruppen an, die zur Unterdrückung der Proteste eingesetzt wurden.

Maßnahmen, die erst knapp zwei Jahre nach den ersten Gewalttaten im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober 2020 bekanntgegeben werden. Bis dahin wurden die allermeisten Opfer von politischer Gewalt von der einen oder der anderen Seite sich weitgehend selbst überlassen, kritisiert Marco Gandarillas, der den mehr als 500 Seiten umfassenden Bericht der Experten grundsätzlich begrüßt. 

Ermordungen und Folter

Dabei spielen die Ortsnamen Sacaba und Senkato, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Bolivianerinnen und Bolivianer eingebrannt haben, eine zentrale Rolle. Massaker mit mehreren Toten hat es an beiden Orten gegeben. Polizei und Militärs schossen am 15. November in dem Vorort von Cochabamba und am 19. November vor dem Treibstoffdepot Senkata in El Alto auf Demonstranten. In beiden Fällen waren es Anhänger des am 10. November unfreiwillig zurückgetretenen Präsidenten Evo Morales und Aktivisten seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS), die damals auf die Straße gingen und massakriert wurden.

Ermordungen habe es gegeben, so Patricia Tappatá, Mitglied der Expertengruppe am letzten Dienstag (17.8) in La Paz. „Mindestens 37 Personen verloren ihr Leben in mehreren Orten Boliviens, hunderte wurden verletzt, sowohl körperlich als aus psychisch“, berichtete Tappatá. Über acht Monate haben Tappatá und ihre Kolleginnen und Kollegen ermittelt, was im Zeitraum zwischen September und Dezember 2019 geschah. In diese vier Monate fallen die Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober, der unfreiwillige Rücktritt von Evo Morales vom 10. November und die Machtübernahme durch Interimspräsidentin Jeanine Áñez am 12. November.

Opfer auf beiden Seiten

Im Fokus standen vor allem die Verbrechen, die nach dem 10. November verübt wurden und in der politischen Verantwortung von Jeanine Áñez liegen. Die sitzt seit Monaten in Untersuchungshaft ohne formelle Anklage. Juristisch kaum zu rechtfertigen, doch auch die Situation vieler Opfer sei unhaltbar, kritisiert Gandarillas. „Das ist ein Manko“, so der Analyst des Bank Information Center, eine NGO mit Sitz in Washington. Nicht alle Opfer seien zu Wort gekommen. Gezielte Morde, für die auch paramilitärische Aktivisten aus dem MAS-Umfeld verantwortlich sein könnten, seien bisher kaum oder gar nicht untersucht, so Gandarillas. Über allem schwebe zudem die Frage, ob es einen Putsch gegen Evo Morales gegeben habe oder nicht.

Morales hatte entgegen den Verfassungsbestimmungen am 20. Oktober erneut für die Präsidentschaft kandidiert - trotz eines Referendums, in dem knapp über 50 Prozent der wahlberechtigen Bolivianer sich gegen eine weitere Amtszeit des seit dem 22. Januar 2006 regierenden Präsidenten gestellt hatten. Dafür hatte Morales eine zweifelhafte juristische Studie vorgelegt und bei vielen Bolivianern an Glaubwürdigkeit verloren, wie die Proteste rund um die Wahlen und der Vorwurf der Wahlmanipulation belegen. Damals hatte es Angriffe auf Demonstrierende in mehreren Städten Boliviens gegeben, teilweise von Scharfschützen. Ebenso gab es Anschläge auf Kritiker von Präsident Morales, deren Häuser angezündet wurden. Auch diese Verbrechen, denen mehrere Menschen zum Opfer fielen, sind bis heute nicht aufgeklärt, kritisiert Gandarillas.

Dafür macht er ein ineffektives, hochkorruptes und eben nicht politisch unabhängiges Justizsystem mitverantwortlich. „Hier werden Posten nach politischer und nicht nach juristischer Qualifikation verteilt", so der Experte. Zudem werde oft nach politischen Gesichtspunkten ermittelt und damit die Glaubwürdigkeit der Justiz erschüttert. Für Gandarillas ist das ein Grund, weshalb die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission bei den achtmonatigen Ermittlungen sich nicht nur auf die Staatsanwaltschaft und die Justizorgane im Land hätte stützen sollen, sondern breitere gesellschaftlichere Kreise hätte einbeziehen müssen. 

Putsch - ja oder nein?

Alles andere als einfach, denn in der politischen Debatte des Landes ist auch zwei Jahre nach dem unfreiwilligen Rücktritt von Evo Morales die Frage, ob es ein Putsch war oder nicht, omnipräsent. Demzufolge wird der Expertenbericht, der sich auf Befragungen von 400 Personen, die Sichtung von 120.000 Akten sowie Zeugenaussagen stützt, von Politikern aller politischen Parteien so zitiert, dass er die eigene Sicht der Dinge stützt.

Der regierende Präsident Luis Arce von der MAS macht da keine Ausnahme. Er sieht seinen Parteifreund und MAS-Vorsitzenden Evo Morales als Opfer, hat aber lange gezögert, die 2019 von der Imterimsregierung verfolgten Morales-Anhänger öffentlich zu unterstützen. Ein Widerspruch? Nicht unbedingt, denn Arce befindet sich angesichts erneut steigender Infektionszahlen, einer lahmenden Wirtschaft, die er versprochen hat, wieder anzukurbeln, unter Druck. Er muss liefern. Zugleich hat er sein Wahlklientel, wozu viele verarmte Haushalte zählen, bisher nicht mit Sozialprogrammen gestützt, um die Folgen der Wirtschaftskrise abzufedern. Insofern ist der Bericht der Kommission ein dankbares Instrument, um vom wenig erbaulichen Alltag zumindest vorübergehend abzulenken. 

Autor: Knut Henkel

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