Bolivien: Ende eines Wortbruchs (Kommentar)
In Bolivien wirft die rechtskonservative Interims-Präsidentin Jeanine Áñez als Kandidatin das Handtuch. Für die Demokratie ist das eine gute Nachricht.
Schon der Beginn ihrer Interims-Amtszeit war umstritten: Mit der Bibel marschierte Interims-Präsidentin Jeanine Áñez ins Parlament und damit ins Abseits. Die Episode offenbarte das Áñez ihre eigentliche Aufgabe gar nicht verstanden hatte. Die bestand nämlich darin, sich neutral zu verhalten, Neuwahlen zu organisieren und dann einem demokratisch legitimierten neuen Staatsoberhaupt Platz zu machen. Doch Áñez machte viel mehr: Sie nutzte ihr Amt, um politische Fakten zu schaffen und – so sagt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch – Vertreter und Unterstützer der ehemaligen Regierung von Evo Morales juristisch und politisch zu verfolgen. Das hatte den faden Beigeschmack der Siegerjustiz.
Corona, Proteste, schlechte Umfragewerte
Áñez versprach zu Beginn, ihr Interims-Amt nicht dafür zu nutzen, eine eigene Kandidatur voranzutreiben und forcieren zu wollen. Doch sie gefiel sich selbst in der neuen mächtigen Rolle so sehr, dass sie das an das bolivianische Volk gegebene Versprechen brach. Sie stieg ebenfalls ins Präsidentschaftsrennen ein und nutzte den ihr unverhofft zur Verfügung stehenden Machtapparat zur Eigenwerbung. Das sorgte für heftige Proteste auf den Straßen des Landes. Doch dann kam die Corona-Krise und mit ihr das Chaos, das Áñez als überforderte Politikerin entlarvte. In der Nacht zum Freitag zog Áñez nun die Konsequenzen. Katastrophale Umfragewerte halfen sicher dabei zu der Erkenntnis zu kommen, das Unweigerliche zu akzeptieren: Ihren Rückzug als Präsidentschaftskandidatin. Ihren Verzicht verband sie mit einer Aufforderung an die Geschlossenheit des konservativen Lagers: "Wenn wir uns nicht vereinen, kommt Morales zurück. Wenn wir uns nicht vereinen, verliert die Demokratie.“
Manipulationsvorwürfe nach Präsidentschaftswahl
Bolivien wurde nach der Präsidentschaftswahl im Oktober des vergangenen Jahres von heftigen Unruhen erschüttert. Eine Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kam zu der Einschätzung, massive Wahlmanipulationen seien nicht ausgeschlossen und empfahl deshalb Neuwahlen. Morales, der sich zuvor zum Wahlsieger erklärt hatte, trat daraufhin zurück und flüchtete ins Exil. Unter Berufung auf neue Studien aus den USA weist Morales inzwischen die Vorwürfe zurück und spricht von einem Putschversuch gegen ihn. Die beiden Lager glauben jeweils an ihre Version.
Wortbruch auf beiden Seiten
Das ganze Chaos ausgelöst hatte aber Morales höchstpersönlich mit dem ersten großen Wortbruch der Krise ausgelöst: Vor einem Referendum über eine Verfassungsänderung, die für eine erneute Kandidatur Morales notwendig war, hatte der Präsident seinem Volk versprochen, das Ergebnis anzuerkennen. Doch nach der Niederlage setzte Morales seine Kandidatur gegen die Wählerentscheidung auf juristischem Wege durch. Seitdem ist die politische Lage in Bolivien vergiftet und Morales verpasste die Gelegenheit für einen sauberen demokratischen Abgang. Er wäre angesichts seiner Erfolge wohl als einer der größten Präsidenten seines Landes in die Geschichte eingegangen. Seinen Fehler, das Ergebnis des Referendums zu ignorieren, hat Morales inzwischen eingestanden. Auch der neue Spitzenkandidat von Morales sozialistischer MAS, Luis Arce, räumte jüngst in einem Interview ein, eine Lehre aus den Vorkommnissen sei, die Ergebnisse eines Referendums künftig anzuerkennen.
Wahlen als Chance auf Neuanfang
Die Bolivianer haben nun am 18. Oktober die Gelegenheit, bei den Neuwahlen ihre politische Zukunft zu klären und die schwere Krise auf demokratische Art und Weise zu lösen. Die Chancen stehen dafür nicht schlecht, denn die beiden Wortbrecher Morales und Áñez stehen dann nicht mehr auf dem Wahlzettel. Und das ist gut so.