Aufstrebende chilenische Literatur vorgestellt
Die Frankfurter Buchmesse des Jahres 2015 wird leider nicht als ausgesprochen lateinamerikanisch in die Annalen eingehen. Dafür stehen aktuelle politische Themen aus Europa und dem Nahen Osten sowie mit Indonesien, ein Gastland aus einer ganz anderen Region, allzu sehr im Vordergrund. Während die anwesenden Branchen-Insider aus Lateinamerika die Messe zur Anbahnung von Geschäften und zur Kontaktpflege nutzen, bleiben die Fans der Literatur vom Doppelkontinent dieses Jahr ein wenig außen vor.
Eine lobenswerte Ausnahme machten am Messedonnerstag Literaturvermittler aus Chile und Berlin mit der Präsentation einer zweisprachigen Zeitschrift, in der zwei Dutzend junger, chilenischer Literaten zu Wort kommen. "Literatura chilena emergente", so der Titel des 172 Seiten starken Heftes aus der Reihe "alba - lateinamerikanisch lesen", liefert Begegnungen mit zwei Dutzend im deutschsprachigen Raum zumeist unbekannten, literarischen Stimmen und mit ganz unterschiedlichen Facetten des Landes. Wer darin Motive sucht, die "typisch" oder "verbindend" chilenisch sind, dürfte auf der falschen Fährte sein. Wie so oft liegt das eigentlich Spannende in den Unterschieden.
Viele Chiles
Óscar Barrientos Bradasic betont, dass sein Wohnort Punta Arenas durchaus Einfluss auf Sprache und Sujets nehme, und dass in diesem Landesteil allein deshalb andere künstlerische Werke entstünden als in Zentralchile. Zahlreiche Orte im äußersten Süden trügen sprechende und auf mythische Dinge verweisende Namen. Der Wasserweg zwischen Atlantik und Pazifik sei als "Meerenge der 50 verschiedenen Winde" bekannt, und der europäische Erstbefahrer Magellan habe in seine Reisebeschreibungen Geschichten von Monstern und Geisterwesen eingeflochten. So beschreibt auch Óscar Bradasic in einem Auszug aus dem 2009 veröffentlichten Roman "El viento es un país que se fue" ("Der Wind ist ein fortgegangenes Land") von den phantastischen Begegnungen eines Dichters aus der fiktiven Stadt Puerto Peregrino mit grotesken Wesen, die sich um eine Odaliske scharen. Der Begriff bezeichnet für gewöhnlich Frauen, die früher in einem türkischen Harem lebten. Bei Bradasic ist es vielleicht eine Begleiterin oder Muse aus einer anderen Realität. Es lässt sich herrlich spekulieren, ob der Autor in seinem Text eine erstrebenswerte Utopie beschreibt und, wenn ja, gegen welche realen Gegebenheiten er sich wendet.
Die als Anwältin tätige Alia Trabucco Zerán gestaltet in ihrem 2015 erschienenen Erstling "La resta" ("Was bleibt") einen zweistimmigen Kampf der Generationen um die Deutungshoheit über die jüngere Geschichte Chiles. Ein erwachsener Sohn wendet sich in einer erregten, teils atemlosen Stimme gegen seine wesentlich behutsamer formulierende Mutter: "(...) und mein Vater war auch da, aber nicht komplett, nein, da waren nur Teile von ihm, Teile, Teile, und ich mag Teile überhaupt nicht, darum habe ich sie am Ende runtergeschluckt, einfach so, ohne Wasser (...)". In Alia Zeráns Text übernehmen die streitenden Figuren wie beim Kompositionsprinzip der Fuge vorangegangene Aussagen (Themen, Melodien) und führen diese in Variation oder Weiterentwicklung fort. Die Autorin lotet auf diese Weise aus, wie man 40 Jahre nach dem Beginn der Pinochet-Diktatur sich über die Geschichte austauschen kann. Sie sagt, sie wende sich insbesondere gegen den Trend, die 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, nostalgisch zu verklären.
Literaturvermittlung via Berlin
Mit der vorliegenden Sonderausgabe zu Chile erscheint "alba" inzwischen zum achten Mal. Die Zeitschrift, die von einer ehrenamtlichen Projektgruppe in Berlin erstellt wird, versammelt für gewöhnlich Prosatexte, Gedichte, Interviews, Artikel zum Literaturbetrieb, Rezensionen und avantgardistische Texte. Alle Beiträge erscheinen zweisprachig, wobei Spanisch-Deutsch und Portugiesisch-Deutsch naturgemäß die wichtigsten Paarungen darstellen. Während die meisten Texte in Lateinamerika entstehen und einem europäischen Publikum vorgestellt werden, kommen ab und zu auch Autoren/innen zu Wort, die über ihre Eindrücke vom jeweils anderen Kontinent schreiben. Das aktuelle Chile-Heft war durch die Projektmittelförderung seitens der Kulturabteilung des chilenischen Außenministeriums die erste Nummer der Zeitschrift, die mit einer vollständigen Finanzierung hergestellt werden konnte.
Autor: Thomas Völkner
Weitere Informationen unter: www.albamagazin.de/de