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Brasilien, Venezuela |

Arbeiten zum Hungerlohn - Venezolaner und ihre Ausbeuter

Um zu überleben und ihren Angehörigen Geld zu schicken, nehmen Venezolaner in Brasilien unterbezahlte Jobs an. Foto: DW/Y. Boechat
Um zu überleben und ihren Angehörigen Geld zu schicken, nehmen Venezolaner in Brasilien unterbezahlte Jobs an. Foto: DW/Y. Boechat

Als Juan Garcia* zum ersten Mal das Haus sah, das sein neues Zuhause in Brasilien sein sollte, erinnerte es ihn an die Krippe im Stall von Bethlehem. Der 35-jährige Venezolaner ist nicht sonderlich religiös, im Gegenteil. Aber die Tiere in dem Gebäude, das ihm sein neuer Arbeitgeber als Wohnung angeboten hatte, erinnerten ihn sofort an die Bilder aus der Bibel. "Als ich das Pferd, die Insekten, den Schmutz sah, dachte ich: 'Das war's, ich wurde als Jesus wiedergeboren, in einer Krippe'", erzählt er.

Die Krippenszene, erklärt er, stand am Ende des Monats, den er auf den Straßen von Pacaraima an der Grenze von Brasilien und Venezuela verbracht hatte. Dort schlief er unter Vordächern und auf Plätzen und hatte nicht genug Geld, um sich zwei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Nun arbeitet er sechs Tage pro Woche auf einem kleinen Bauernhof am Rande der Stadt und verdient 300 Real im Monat. "Die Euphorie über das Essen, über ein Dach über dem Kopf und die Möglichkeit, meiner Familie Geld zu schicken, ist vorbei. Jetzt merke ich, wie sehr ich ausgenutzt werde", erklärt Juan. "Aber momentan habe ich keine Alternative, und es geht mir wesentlich besser als den meisten der Venezolaner hier."

 

Pferd als Vormieter

Das Haus, in dem Juan lebt, hat weder Türen noch Fenster. Es ist ein kleiner Stall aus Holz, ohne festen Fußboden, in dem vor seiner Ankunft ein Pferd lebte. "Hier wird es nachts kalt, und das Pferd versuchte hier auch Unterschlupf zu finden, aber es ist zu klein, der Platz reichte nicht für uns beide", erzählt Juan, der den ersten Tag in seinem neuen Zuhause putzend verbracht hat, um den Dung des vorherigen Bewohners zu beseitigen.

Um der Kälte zu entkommen, hat Juan ein Zelt in seiner Unterkunft aufgebaut und zweigt illegal Strom aus dem Netz ab. Außer ihm arbeiten noch zehn andere Venezolaner auf dem Bauernhof. Alle verdienen umgerechnet ca. 62 Euro im Monat, ein Drittel des Mindestlohns in Brasilien. Die Ausnahme ist der Vorarbeiter, ebenfalls ein Venezolaner, der umgerechnet 125 Euro verdient; er verteilt die Aufgaben und beaufsichtigt die neuen Angestellten. Alle bekommen drei Mahlzeiten am Tag, einfache Gerichte ohne große Abwechslung: Reis oder Nudeln mit Wurst als Mittag- und Abendessen. "Ab und zu geben sie uns Hühnerfleisch. Anderes Fleisch haben wir nie gegessen", sagt Juan, der in Venezuela seine Ehefrau und zwei Kinder zurückgelassen hat.

Vielen Venezolanern in Brasilien ergeht es ähnlich wie Juan. Sie werden Opfer von Brasilianern, die in ihrer Bedürftigkeit die Chance sehen, um sie auszunutzen. Im ganzen Bundesstaat Roraima werden Immigranten zu langen Arbeitszeiten und einem Lohn verpflichtet, der weit unter dem Mindestlohn liegt. Im Laufe des Jahres wurden bereits Dutzende Venezolaner von den brasilianischen Behörden aus sklavereiähnlichen Bedingungen gerettet.

 

Illegale in fast jedem Betrieb

"Es handelt sich um ein Problem, das immer stärker zunimmt. Allein in diesem Jahr sind die Beschwerden im Vergleich zu 2017 um hundert Prozent angestiegen", sagt Safira Araújo Campo, die für Arbeitsrecht zuständige Staatsanwältin in Boa Vista, der Hauptstadt von Roraima. "Wir stoßen dabei auf alles: Sklavenarbeit, Kinderarbeit, sexuelle Ausbeutung. Die Brasilianer profitieren von der Verzweiflung der Neuankömmlinge und nutzen sie aus."

 

Das Problem existiert nicht nur in den ländlichen Gegenden des Bundesstaates Roraima. In der Grenzstadt Pacaraima gibt es kaum ein Geschäft, in dem nicht illegal Venezolaner beschäftigt sind. Samuel Friaz*, gerade mal 17 Jahre alt, arbeitet sieben Tage die Woche in einem Großmarkt, der Reis und andere Grundnahrungsmittel anbietet. "Ich verdiene 15 Real am Tag (ca. 3 Euro), und da der Markt jeden Tag öffnet, arbeite ich so viel wie möglich, um mehr Geld zu verdienen und es meiner Mutter und meinen jüngeren Geschwistern zu schicken", erklärt er. Im Mai kam er aus der venezolanischen Stadt Maturin nach Pacaraima. Wie die meisten Schwarzarbeiter in der Stadt erhält er Frühstück und Mittagessen am Arbeitsplatz und teilt sich ein einfaches Haus mit anderen Venezolanern. "Wir wissen, dass wir ausgenutzt werden, aber was soll ich machen? Wieder auf der Straße leben? Niemals, es ist gut so, wie es ist", erklärt er.

 

Bezahlung weit unter dem Mindestlohn

Der Durchschnittslohn der Venezolaner, die in Roraima im Handel arbeiten, liegt zwischen 62 und 125 Euro, abhängig von den Arbeitszeiten und der Großzügigkeit der Arbeitgeber. Luciano Marquez* verdiente anfangs ca. zehn Euro pro Woche, aber, so erzählt er, dank seinem Fleiß und seiner Ehrlichkeit bekam er eine Lohnerhöhung und verdient jetzt 30 Euro die Woche. Er ist stolz über diesen Fortschritt und hofft auf neue Errungenschaften in den kommenden Monaten. "Mein Chef hat gesagt, dass er mich legal anstellt und mir den Mindestlohn zahlt, sobald die Lage sich bessert. Nicht alle Venezolaner, die hierherkommen, sind Verbrecher; wir sind auch fleißige Arbeiter", erklärt er.

Der Präsident der Handelsvereinigung von Pacaraima, Cleber Soares, erkennt die illegale Beschäftigungvon venezolanischen Arbeitskräften im Einzelhandel an, aber er spielt die Probleme herunter: "Größtenteils handelt es sich um Menschen, die helfen wollen, die durch das, was den Leuten geschieht, sensibilisiert wurden. Da kann es vorkommen, dass nicht alle die Möglichkeit haben, die vollen Lohnkosten zu übernehmen. Es ist in Brasilien sehr schwer, jemanden einzustellen", sagt Soares, der ebenso wie ein Großteil der Gewerbetreibenden in der Stadt ein Anhänger des rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro ist.

 

Der Markt boomt wegen der Krise

Soares glaubt, dass die venezolanische Krise dem Handel in Pacaraima geholfen hat. Der Grenzort hat sich in einen der führenden Märkte von Lebensmitteln für den gesamten Nordosten und Südosten Venezuelas verwandelt. "In den letzten Jahren sind Personen aus ganz Brasilien hierhergekommen und haben Geschäfte gegründet. Ich glaube, der Umsatz hat sich verdoppelt oder verdreifacht", erzählt er.

Viele Venezolaner verbringen den Tag auf der Straße auf der Suche nach Gelegenheitsarbeit zu geringen Löhnen. Ein Arbeiter, der einen Kleinlaster mit Reissäcken belädt, erhält durchschnittlich zwei bis drei Euro für einen Auftrag. Frauen, die als Putzkräfte bei Familien arbeiten, erhalten ca. drei Euro pro Arbeitstag. "Viele Menschen nahmen eine Familie bei sich auf, die im Haushalt mithalf und dafür Essen, Unterkunft und etwas finanzielle Hilfe erhielt", berichtet Soares. "Aber die Kontrollen in letzter Zeit haben viele Menschen verängstigt; viele Venezolaner mussten zurück auf die Straße."

Juan Garcia, der Venezolaner, der jetzt sechs Tage die Woche Gemüse pflanzt und erntet, ist zwiegespalten: "Manchmal wünsche ich mir, dass die Menschen, die uns ausnutzen, bestraft werden, aber dann erinnere ich mich an die Zeit, als ich auf der Straße gewohnt habe und nichts zu essen hatte und ich hoffte, dass die Behörden hier nicht auftauchen", sagt er. Er erzählt, er schlafe jede Nacht mit der Hoffnung ein, dass er in seinem eigenen Bett mit seinen Kindern und seiner Frau aufwacht. "Jedes Mal wenn ich aufwache und mich in diesem Stall wiederfinde, frage ich mich, wann dieser Albtraum endet. Ich glaube, das ist eine Prüfung Gottes für uns Venezolaner. Es muss irgendeinen Grund für all das geben."

*Die Namen der interviewten Venezolaner wurden geändert, um ihre Identität zu schützen.

Quelle: Deutsche Welle, Autor: Yan Boechat

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