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90.000 Verschwundene in Mexiko - und kein Ende in Sicht

Warum es den UN-Tag der Verschwundenen am 30. August gibt, lässt sich in Mexiko besichtigen: Dort verschwinden weiterhin tausende Menschen im Jahr. Angehörige und Menschenrechtler werfen dem Staat Versagen vor.

Überall in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez sind Plakate der vielen verschwundenen Menschen zu sehen, nach denen ihre Angehörigen suchen. Oft sind es Mädchen und Frauen. Foto (Symbolbild): Adveniat/Jürgen Escher

Überall in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez sind Plakate der vielen verschwundenen Menschen zu sehen, nach denen ihre Angehörigen suchen. Oft sind es Mädchen und Frauen. Foto (Symbolbild): Adveniat/Jürgen Escher

Kakteen, Steine, Berge und grauer Wüstensand, dazwischen ab und zu eine verlassene, abgebrannte Ruine. Mehr gibt es nicht zu sehen am Fuße des Berges Picachos del Fraile außerhalb der nordmexikanischen Industriestadt Monterrey. Deshalb suchten sich wohl die Drogenkartelle diesen Ort aus, um ihre Gegner umzubringen und zu verscharren. 2010 tobte der Drogenkrieg besonders heftig in der Region. Hunderte Menschen verschwanden.

Sisyphusarbeit in über 4.000 Massengräbern

Manche wurden verschleppt, um für die Kartelle zu arbeiten oder Drogen zu schmuggeln. Andere wurden von Sicherheitskräften festgenommen, bevor sich ihre Spur verlor. Erst im vergangenen Juli verschwanden zehn Mitglieder der indigenen Ethnie der Yaqui im Bundesstaat Sonora, als sie Vieh zu einer 85 Kilometer entfernten Auktion trieben. Ihre Angehörigen vermuten einen Zusammenhang mit dem Widerstand der Yaqui gegen Bergbauprojekte.

Dass einige der Opfer im Wüstensand vor den Toren Monterreys liegen, wurde durch einen anonymen Hinweis bekannt. Nun suchen Forensiker der regionalen Staatsanwaltschaft nach den Toten. Ein gelbes Plastikband markiert ein Areal so groß wie ein Fußballfeld. Ein paar Beamte in weißen Overalls graben mit Spitzhacken und Schaufeln den Boden um. Finden sie einen Knochen, reichen sie ihn an ihre Kollegen weiter, die unter einer Plastikplane die Fundstücke mit Pinseln reinigen und in nummerierte, durchsichtige Plastiktütchen stecken. Von dort wandern die Knochen zur Staatsanwaltschaft, um DNA-Tests unterzogen und dann mit einer Datenbank der Angehörigen verglichen zu werden.

In einem Land, das fast sechsmal so groß wie Deutschland ist, ist die Suche nach den inzwischen 90.000 Verschwundenen eine Sisyphusarbeit. Oft sind es Angehörige, die Tatorte finden. Fast 100 private Suchbrigaden gibt es inzwischen in Mexiko. Es sind Bäcker und Bauern, Werkstattbesitzer und Mütter, die nach den verschwundenen Angehörigen suchen. Durch Kurse ausländischer Forensiker haben sie gelernt, Zeugenaussagen einzuschätzen und menschliche Überreste ordnungsgemäß zu bergen. Über 4.000 geheime Massengräber wurden inzwischen gefunden, mehr als 6.900 Leichen geborgen.

Ein zerrüttetes Verhältnis zum Staat

Drei Regierungen hatte Mexiko seit Beginn des Drogenkriegs 2006, jede davon unter einer anderen politischen Flagge. Doch die Tragödie endet nicht: 4.960 Verschwundene kamen alleine im Vorjahr hinzu - obwohl Präsident Andrés Manuel López Obrador gerne von der "Erblast" der Vorgänger spricht. Im Wahlkampf hatte er 2018 versprochen, den Opfern des Drogenkrieges zu helfen und das Blutvergießen zu stoppen. Das ist nicht gelungen. Der Staatssekretär für Menschenrechte, Alejandro Encinas, erzählt gerne von erfolgreichen Suchaktionen, von Fortbildungen regionaler Ermittlungsbehörden und dass im Pandemiejahr 2020 die Anzeigen wegen verschwundener Personen um 22 Prozent zurückgegangen seien.

Doch das Verhältnis zwischen den Angehörigen und der Regierung ist zerrüttet. Im April beschloss die Regierungspartei Morena eine Reform der Staatsanwaltschaft. Die Reform, die Empfehlungen von Menschenrechtlern und den UN missachtet, befreit die General-Staatsanwaltschaft (FGR) von der Verpflichtung, die Suche nach Verschwundenen zu koordinieren. Auch die erst 2018 verankerte Bürgerkontrolle der Staatsanwaltschaft wurde aufgeweicht, ebenso die Verpflichtung, den Angehörigen Akteneinsicht zu gewähren oder die Möglichkeit, unabhängige Expertengutachten einzufordern, sagte Volga del Pino, Beraterin der Organisation "Nationale Bewegung für unsere Verschwundenen", dem Portal "Animal Politico". Der Grund, vermuten Beobachter, liege darin, dass Teile der staatlichen Sicherheitskräfte mit den Kartellen unter einer Decke steckten und am Verschwindenlassen beteiligt seien.

"Die Last nicht auf Familien abwälzen"

So obliegen die Ermittlungen wieder den regionalen Staatsanwaltschaften und damit ausgerechnet jenen Behörden, die schon immer im Fokus der Kritik standen. Von den 23.000 Menschen, die seit 2018 in Mexiko verschwanden, hätten die Staatsanwaltschaften nur ein Drittel als Opfer eines Verbrechens registriert, was eine Verpflichtung zur Ermittlung nach sich ziehen würde, kritisierte jüngst die US-Menschenrechtsorganisation Washington Office on Latin America (WOLA). Die Mehrheit der minderjährigen Verschwundenen sind laut WOLA Mädchen, doch Frauenhandel werde von keiner einzigen Behörde überhaupt in Betracht gezogen.

"Die Familien haben das Recht, an den Ermittlungen und der Suche beteiligt zu werden", sagt Stephanie Brewer von WOLA. "Aber das bedeutet nicht, dass der Staat die Last der Ermittlung auf die Familien abwälzt und sie damit hohen Risiken aussetzt."

Quelle: Deutsche Welle, Autorin: Sandra Weiss

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